Ein warmes Gefühl von Freude ergriff von Kim Besitz, während der Drache in immer enger werdenden Spiralkreisen niederging und nach einem Platz zum Landen Ausschau hielt. Obwohl Kim erst einmal zuvor in Märchenmond gewesen war, und obwohl er jetzt ahnte, daß ihn hinter den schimmernden Wällen nur weitere Schrecknisse erwarten würden, war es doch ein bißchen so, als käme er nach Hause.
Er würde Themistokles wiedersehen, und ganz gleich, unter welchen Vorzeichen es geschah - er freute sich darauf.
Um so enttäuschter war Kim, als Priwinn dem Drachen plötzlich zu verstehen gab, daß er nicht direkt vor den Toren, sondern außer Sichtweite der Stadt landen sollte. »Was soll das nun wieder?« murrte Kim ein wenig verstimmt, kaum daß sie vom Rücken des Drachen heruntergeglitten waren. Das hieß - Priwinn und Kim stiegen ab, der Riese blieb im Nacken des Drachen sitzen. Und Rangarig wartete kaum, bis sie sich ein paar Schritte entfernt hatten, ehe er sich auch schon wieder in die Höhe schwang und in der Nacht verschwand.
»Kommt Gorg nicht mit?« fragte Kim verwirrt, obwohl er noch nicht einmal Antwort auf seine erste Frage bekommen hatte.
»Nein«, antwortete Priwinn. »Er würde zu sehr auffallen. Und es ist besser, wenn einer von uns draußen bleibt - falls wir Hilfe brauchen. Wer weiß, was uns in der Stadt erwartet.«
Während Kim ihn noch bestürzt ansah, griff der Prinz in seinen Beutel und zog ein braunes Stück Stoff hervor, das sich als zerschlissener Umhang entpuppte, als er es auseinanderfaltete und über die Schultern warf. Helm und Handschuhe seiner schwarzen Rüstung verbarg er in seinem Beutel, und am Schluß rückte er noch das Schwert zurecht, damit es unter dem schmuddeligen Mantel vor allzu neugierigen Blicken verborgen blieb. Dann hob er eine Handvoll Schmutz auf und rieb ihn sich auf das Gesicht. Er sah jetzt aus wie ein Betteljunge, nicht mehr wie der Prinz von Caivallon, fand Kim. Offensichtlich legte er großen Wert darauf, nicht sofort erkannt zu werden.
Nachdem Priwinn mit seiner Verkleidung fertig war, musterte er auch Kim kritisch. Was er sah, schien ihn zufriedenzustellen - Kims Kleidung bestand ja mittlerweile ohnedies nur noch aus Fetzen -, aber er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Dolch des Zwerges, den Kim unter den Gürtel geschoben hatte.
»Versteck das lieber«, sagte er. »Straßenjungen besitzen keine so wertvollen Waffen.«
Kim zog das Messer und betrachtete es verblüfft. Für ihn sah das Zwergenschwert eher schäbig aus und kein bißchen wertvoll.
»Gib gut darauf acht«, sagte Priwinn ernst. »Es ist eine Klinge, die in den Höhlen der Zwerge geschmiedet wurde.« Er klopfte auf die Stelle, an der sein Schwert unter dem Umhang verborgen war. »Mit Ausnahme meines Schwertes können nur die Waffen der Zwerge den Panzer eines Eisenmannes durchschlagen.«
Da erinnerte sich Kim, wie mühelos vorhin die schmale Klinge durch die zollstarken Eisenplatten geglitten war und wie verheerend ihre Wirkung auf den Eisenmann gewesen war. Hastig schob er das kleine Schwert unter das Hemd und überzeugte sich davon, daß er sich nicht durch eine unbedachte Bewegung selbst verletzen würde. Dann machten sie sich auf den Weg zum Tor.
Rangarig hatte sie ein gutes Stück davor abgesetzt, so daß eine Weile verging, bis sie es erreichten. Und in Kims Wiedersehensfreude mischte sich ein erster Wermutstropfen, als er sah, daß das Tor geschlossen war. Solange er sich erinnern konnte, waren Gorywynns Tore nur ein einziges Mal geschlossen gewesen: während der Belagerung durch Boraas' schwarze Ritter.
Und Kim erschrak noch viel heftiger, als er das Tor genauer ansah: Anders als die Mauern und Zinnen bestand es nicht aus farbigem Glas, sondern aus Eisen!
Es war ein häßliches Tor - groß und wuchtig und so massig, daß es den Eindruck machte, selbst einem Kanonenschuß standhalten zu können, es war mit faustgroßen Nieten übersät, von denen jede einzelne in einem dornigen Widerhaken endete. In der schimmernden Kristallwand des Burgwalls wirkte es wie eine häßlich vernarbte Wunde.
Jemand mußte sie gesehen haben, denn als sie näher kamen, sah Kim eine schemenhafte Bewegung hinter dem nicht ganz durchsichtigen Glas der Mauer. Aber das Tor rührte sich nicht. Erst als sie sich ihm bis auf zwei Schritte genähert hatten, wurde eine winzige Klappe in der gewaltigen schwarzen Fläche geöffnet, und ein Paar dunkler, sehr mißtrauischer Augen spähte zu ihnen heraus. »Wer da?« Kim wollte antworten, aber Priwinn machte eine rasche, verstohlene Geste, still zu sein, und trat einen weiteren Schritt vor. »Zwei Reisende, die hungrig und müde sind und ein Nachtlager suchen«, sagte er schnell.
»Ein Nachtlager? Ihr seid zu spät. Kommt wieder, wenn die Sonne aufgegangen ist - oder besser auch dann nicht. Hier ist kein Platz für Bettler und Hausierer.«
»Wir sind keine Bettler«, sagte Priwinn. Er griff unter seinen Mantel und zog eine goldene Münze hervor. »Wir können für Kost und Lager zahlen. Hier - seht selbst.«
Der Blick der dunklen Augen saugte sich für einen Moment an der Münze fest, die in Priwinns Hand blinkte. Dann wurde die Klappe mit einem Knall zugeschlagen, und etwas später öffnete sich eine niedrige Tür in der Flanke des gewaltigen eisernen Tores. Eine Hand in einem Kettenhandschuh winkte ungeduldig zu ihnen heraus und entriß Priwinn die Münze, als dieser sich an ihr vorbei durch die Tür bückte.
Kim folgte ihm mit klopfendem Herzen. Mildes, hellrosa gefärbtes Licht, das direkt aus den transparenten Kristallwänden der Mauern drang, umgab ihn, als er sich hinter Priwinn aufrichtete und er wieder auf dem vertrauten, gläsernen Mosaik von Gorywynns Straßen stand.
Und doch schien dies nicht mehr der Ort zu sein, den Kim so gut kannte, wie er bestürzt feststellte. Eine eisige Kälte schien ihnen entgegenzuschlagen, und es dauerte einen Moment, bis Kim erschrocken begriff, daß sie nicht von außen kam.
Der Mann, der sie eingelassen hatte, war ein hochgewachsener, grauhaariger Soldat von unbestimmbarem Alter, mit grobem Knochenbau und einem harten Gesicht. An seinem Gürtel hing ein Schwert, dessen schartige Klinge verriet, daß es oft benutzt wurde und nicht nur der Zierde diente. Sein Blick hatte etwas Gieriges und Lauerndes. In seiner Begleitung befanden sich drei weitere Bewaffnete, die sich scheinbar lässig auf ihre Speere stützten, dabei aber Kim und Priwinn äußerst aufmerksam im Auge behielten. Seit wann gab es bewaffnete Wachen hier?
»Was ist mit deinem Freund da?« fragte der Grauhaarige, nachdem er Kim einen Moment lang abschätzend angeblickt hatte. »Kann er auch bezahlen?«
»Seit wann muß man bezahlen, um in Gorywynn eingelassen zu werden?« entfuhr es Kim, ehe Priwinn es verhindern konnte; er brodelte vor Zorn.
Der Prinz warf Kim einen fast verzweifelten Blick zu, griff rasch unter sein Gewand und zog ein weiteres Goldstück hervor, das er dem Wächter hinhielt. »Ich bezahle für ihn«, sagte Priwinn. »Und, bitte, verzeiht meinem Freund. Er ist... lange nicht mehr hier gewesen. Er kennt die Sitten und Gebräuche hier nicht.«
»Das scheint mir auch so«, knurrte der Mann. Das Goldstück verschwand wie das erste unter seinem Gürtel, aber das Mißtrauen blieb in seinem Blick. »Wer ist der vorlaute Bursche?«
»Nur ein dummer Junge vom Lande, Herr«, beeilte sich Priwinn den Grauhaarigen zu beruhigen, während er Kim einen weiteren, beschwörenden Blick zuwarf. Ehe der Soldat eine weitere Frage stellen konnte, fügte Priwinn hinzu: »Könnt Ihr uns vielleicht eine Herberge nennen, Herr? Wir würden ungern auf der Straße übernachten.«
Nachdem ein drittes Goldstück seinen Weg in die Taschen des Wächters gefunden hatte, knurrte dieser: »Geht zu Grodler, meinem Schwager. Sagt ihm, daß ich Euch schicke, dann wird er Euch ein Zimmer geben - wenn Ihr bezahlen könnt. Nur die Straße hinunter. Es ist das Goldene Kalb - Ihr könnt es gar nicht verfehlen.«