Endlich fanden sie ein Zimmer, das nicht so ganz unbewohnt aussah wie die übrigen Räume. Priwinn zögerte einen Moment, hinter dem Vorhang herauszutreten, der die Dienertür verbarg, und auch Kim machte nur einen kleinen, fast unsicheren Schritt in das Zimmer hinein.
Das Gemach war sehr groß, sehr still und fast leer. Bis auf ein schmales gerades Stück an der gegenüberliegenden Seite, wo sich eine zweite, sehr viel breitere Tür befand, war es völlig rund und hatte Fenster an allen Seiten. Sie mußten sich unter der höchsten Spitze des Turmes befinden. Zwar sah man verschwenderische Teppiche, Bilder und Gobelins an den Wänden, aber es gab kaum Möbel - nur ein schmales Bett, einen einfachen Tisch und eine mächtige Truhe aus Eichenbohlen. Einzig ein gewaltiger, aus einem Stück geschnitzter Sessel war zum Fenster hin gerückt, so daß Kim und Priwinn nur die hohe Lehne erkennen konnten. Niemand war im Raum.
Kim sah sich enttäuscht um.
Priwinn zog eine Grimasse. »Ich verstehe das nicht«, meinte er. »Das hier muß Themistokles' Gemach sein. Ich habe gehört, daß es unter der Turmspitze liegt, und gehofft, daß der Magier hier ist...« Er seufzte tief.
»Das ist ganz richtig«, ließ sich da eine Stimme vernehmen. Kim und Prinz Priwinn fuhren erschrocken herum. Die Hand des Steppenprinzen schlug den Umhang zurück und legte sich auf den Schwertgriff, und auch Kims Finger suchten fast ohne sein Zutun das Zwergenschwert, das er unter dem Hemd trug.
Aus dem Stuhl erhob sich jetzt eine Gestalt. Alles an ihr war weiß - angefangen von dem dichten, bis auf die Schultern fallenden Haar, über die buschigen Brauen und den langen wallenden Bart bis hin zu der weiten Robe, die bis auf die Knöchel fiel. Ein alter Mann, sehr alt, seine Schultern von unzähligen Jahren gebeugt wie unter einer unsichtbaren Last, doch man sah ihm an, daß er früher einmal sehr groß gewesen sein mußte. Und seine sanften Augen strahlten warm und weise, daß Kim erschauerte.
»Themistokles?« rief er aus. »Du ... du lebst!«
Der alte Magier lächelte sanft. »Warum sollte kh nicht? Ich bin zwar nicht unsterblich, aber mein letzter Tag ist noch lange nicht gekommen. Auch wenn der eine oder andere mich vielleicht schon für etwas tatterig halten mag.« Die letzten Worte, die ebenfalls von einem milden Lächeln begleitet wurden, galten Prinz Priwinn, der noch immer wie erstarrt dastand und den Zauberer ansah. Themistokles' Brauen zogen sich zusammen, und ein bekümmerter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als er sah, daß die Hand des jungen Steppenreiters auf dem Schwertgriff lag. »Priwinn, Priwinn«, sagte er kopfschüttelnd. »Du hast anscheinend nichts gelernt. Du bist der gleiche Hitzkopf, wie es dein Vater in deinem Alter war. Und mir scheint, wie er es noch ist. Wieso kommst du in Waffen hierher und durch die Hintertür, wie ein Dieb in der Nacht, statt wie ein Freund an die Tür zu klopfen und um Einlaß zu bitten?«
Der Prinz ignorierte seine Frage. »Ihr seid ... frei?« fragte er unsicher. Er sah sich rasch im ganzen Zimmer um, als erwarte er einen Hinterhalt.
»Ihr seid ... nicht gefangen?«
»Gefangen?« Themistokles lachte ganz leise. »Hier, Prinz Priwinn? In meiner Burg? Wer sollte mich in Gorywynn gefangenhalten, wo ich doch unter Freunden bin?«
»Wißt Ihr, daß Eure Freunde Gold verlangen, damit man die Stadt überhaupt betreten kann?«
Themistokles seufzte. »Ja, das ist mir zu Ohren gekommen. Die Zeiten sind schwer. Manches hat sich geändert.« Er seufzte noch einmal, ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken und deutete mit einer sonderbar matt wirkenden Geste zum Tisch hin. »Setzt euch doch, meine Freunde. Ich würde euch gerne etwas anbieten, aber es ist Nacht, und die Diener schlafen schon.«
Kim dachte an die verwaiste Küche und all die verstaubten Zimmer, und Themistokles' Benehmen kam ihm jetzt sonderbar vor. Er tauschte einen besorgten Blick mit Priwinn und setzte sich dann gehorsam.
»Du bist also zurückgekommen«, begann Themistokles von neuem, nun an Kim gewandt. »Das freut mich wirklich. Es ist lange her, daß du uns besucht hast, mein junger Freund. Hast du deine Schwester mitgebracht?«
Kims Verwirrung wuchs ins Unermeßliche. Aber er fing einen warnenden Blick von Priwinn auf und beherrschte sich. »Leider nicht«, sagte er.
»Das ist schade.« Themistokles schloß die Augen. Eine ganze Weile sagte er gar nichts, und Kim begann bereits darüber nachzudenken, ob der Zauberer vielleicht eingeschlafen war, wie es bei alten Menschen zuweilen in einem Gespräch vorkommt, als dieser die Lider endlich wieder hob und fragte: »Was führt dich her, Kim? Der Weg nach Märchenmond ist weit und beschwerlich, zumal für einen Menschen aus eurer Welt. Kamst du, um alte Freunde zu besuchen, oder gibt es einen anderen Grund? Ist gar bei dir zu Hause irgend etwas nicht in Ordnung?«
»Doch«, antwortete Kim verstört. »Im ... im Gegenteil. Ich dachte, Märchenmond ist es, das Hilfe braucht.«
»Wir?« Themistokles lächelte. »Wobei sollten wir wohl Hilfe brauchen? O nein - hier bei uns ist alles in Ordnung, nicht wahr, Freund Priwinn?«
Priwinns Gesicht verdüsterte sich. »Hier bei uns ist rein gar nichts in Ordnung«, grollte er. »Und Ihr wißt das verdammt gut, Themistokles! Was soll der Unsinn? Wollt Ihr uns verspotten?«
Themistokles wirkte ehrlich betroffen. »Ich fürchte, ich verstehe nicht, was du meinst, mein Freund«, sagte er ein bißchen verstimmt.
Priwinn fuhr auf. »Ihr -«
»Bitte, Priwinn!« Kim unterbrach den Prinzen mit einer Geste, warf ihm einen beinahe flehenden Blick zu und wandte sich dann wieder an Themistokles. »Aber ich sage die Wahrheit, Themistokles. Du hast mich gerufen. Es ist erst ein paar Tage her. Erinnerst du dich denn gar nicht?«
»Ich soll dich gerufen haben?«
»Es war ... vor dem Krankenhaus«, sagte Kim. Seine Stimme wurde beschwörend, und sie klang verzweifelt. Was war nur mit Themistokles los? »Versuch dich zu erinnern, bitte! Da war dieser Junge aus Caivallon, der plötzlich bei uns auftauchte. Und kurz darauf habe ich dein Gesicht als Spiegelbild erblickt, in dem Cafe. Weißt du nicht mehr? Du hast ausgesehen, als hättest du Angst.«
Zuerst blickte Themistokles ihn nur verstört an. Aber dann geschah etwas Erschreckendes: Plötzlich erschlafften seine Züge. Alles Leben schien aus seinen Augen zu weichen, und für einen Moment verlor er die Kontrolle über sein Gesicht: Sein Unterkiefer sackte herab, Wangen und Augenlider hingen schlaff, wie bei einem uralten Greis, der nicht mehr Herr seines Körpers war. Er begann im Stuhl zu wanken, und Kim spannte sich schon, um nötigenfalls rasch vorzuspringen und Themistokles aufzufangen, sollte er stürzen.
Doch es war nicht nötig. So rasch, wie die furchtbare Veränderung gekommen war, verschwand sie auch wieder. Und als Kim das nächste Mal in Themistokles Gesicht blickte, sah er erneut den mächtigen, weisen Beschützer und Hüter des Landes Märchenmond und keineswegs einen greisen, vergeßlichen Alten.
»Oh, ihr Götter der Unendlichkeit«, flüsterte Themistokles. »Was geschieht mit mir?« Zitternd hob er die Hände, fuhr sich durch Gesicht und Haar und betrachtete sekundenlang seine Fingerspitzen, als müsse er sich davon überzeugen, daß er noch er selbst war.
»Ist alles in Ordnung mit Euch?« fragte Priwinn bestürzt. Themistokles nickte. »Ja«, sagte er. »Jetzt - ja. Was war los?«
Kim sah ihn ratlos an. »Du warst... irgendwie seltsam.« Der Zauberer nickte traurig. »Seltsam«, wiederholte er. »Ja, das ... das trifft es wohl. Ich fühle mich ... seltsam, manchmal.« Sein Blick wurde noch ernster. »Wie ein alter, müder Mann, nicht wahr?«
Seine Gäste schwiegen betreten, aber Themistokles forderte sie mit einer Geste auf, zu antworten. »So war es doch, oder?«
»Ja?« sagte Kim unbestimmt, wobei er seinem Blick auswich. Zuerst Kelhim, dachte er. Dann Rangarig - und jetzt auch Themistokles? Nein, das durfte nicht sein!