»Es ist so«, sagte Themistokles, und Kim begriff, daß der Zauberer seine Gedanken gelesen hatte. »Es ist ganz so, wie du denkst, Kim. Der Zauber erlischt.«
»Aber doch nicht bei dir!« rief Kim verzweifelt aus.
Themistokles lächelte schmerzlich. »Gerade die magischen Wesen spüren es als erste am eigenen Leib, wenn der Zauber aus einem Land weicht.«
»Was geschieht hier?« fragte - nein: wimmerte Kim. »Wir wissen es nicht«, erwiderte Themistokles. Dann machte er eine entschiedene Geste und fuhr mit veränderter Stimme fort: »Aber genug. Unsere Zeit ist knapp, und wir haben Besseres zu tun, als sie mit Mitleidsbekundungen zu vertrödeln.«
Kim atmete innerlich auf. Ja - das war wieder der Themistokles, den er kannte! Und mit wenigen, knappen Worten erzählte Kim, was er auf dem Weg hierher erlebt und erfahren hatte. Der Zauberer Themistokles hörte schweigend zu, wie es seine Art war - aber er wirkte nicht besonders überzeugt, als Kim schließlich am Ende anlangte - und bei seinem Verdacht, daß das Zwergenvolk aus den östlichen Bergen etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun habe.
»Ich weiß, daß manche das denken«, sagte Themistokles mit einem bezeichnenden Blick auf Priwinn. »Aber es ist falsch, glaube mir. Wäre es so einfach, hätten wir das Geheimnis schon ergründet.«
»Aber der Zwerg hat es selbst zugegeben!« ereiferte sich Priwinn.
Themistokles lächelte milde. »Eine Frage, Prinz von Caivallon«, sagte er. »Wenn dich ein Riese am Bein packt und schüttelte wie einen Sack Beeren, würdest du dann nicht auch alles zugeben, was man von dir hören will?«
»Ich glaube aber, daß Priwinn recht hat«, sprang Kim seinem Freund bei. »Dieses Land ... geht zugrunde, Themistokles. Als ich das letzte Mal hier war, war alles anders. Menschen und Tiere und Pflanzen lebten gemeinsam und in Frieden - und es gab keine Eisenmänner.«
»Glaubst du wirklich, daß ich nicht schon längst auf den gleichen Gedanken gekommen bin?« fragte Themistokles traurig. »Nein, Kim - so gerne Priwinn und seine hitzköpfigen Freunde die Zwerge für alles verantwortlich machen würden; sie sind es nicht.«
»Sie sind ein widerwärtiges Volk!« rief Priwinn inbrünstig.
»Das mag sein - in deinen Augen«, befand Themistokles. »So wie sie dich wahrscheinlich nicht besonders mögen. Doch bedenke eines, Prinz: Das Unglück begann, noch bevor das Zwergenvolk erschien.«
»Aber die Gruben!« erinnerte Kim. »Sie zerstören das Land, Themistokles. Die Zwerge bauen Straßen aus Eisen und töten die Flüsse.«
»Es sind nicht die Zwerge, mein junger Freund«, wiederholte Themistokles sanft. Er seufzte tief, blickte einen Moment lang an Kim vorbei ins Leere und deutete dann auf eines der zahlreichen Fenster, die die Turmkammer hatte. »Ich stehe oft hier und blicke hinaus, Kim. Oh, ich sehe, was mit diesem Land geschieht, glaube mir. Ich sehe, was ihr beide gesehen habt, und vieles, vieles mehr. Der Zauber erlischt, Kim, das ist wahr. Aber es sind nicht die Zwerge, die ihn uns stehlen. Die Zwerge sind hier, weil die Bewohner dieses Landes sie gerufen haben. Sie sind nicht gewaltsam eingedrungen - die Männer und Frauen unserer Welt sind zu ihnen gegangen. Vielleicht töten sie unsere Welt. Doch sie tun es, weil man es hier so wollte.«
»Das ist nicht wahr, Themistokles!« protestierte Priwinn. »Nicht mehr lange, und dieses ganze Land wird aus Eisen bestehen.«
»Ja«, stimmte Themistokles traurig zu. »Doch nur, weil die Herzen seiner Bewohner sich verwandelt haben, weil sie hart wie Eisen und kalt wie Stein geworden sind. Wer weiß - vielleicht sind all diese Rinder nicht verschwunden, sondern geflohen?«
»Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?« fragte Kim leise.
»Was sollte ich denn sonst sagen, kleiner Held?« erwiderte Themistokles ernst.
Kim atmete hörbar aus. »Ich ... weiß es nicht«, gestand er. »Ich dachte, wir ... wir kämpfen zusammen gegen den Feind, der Märchenmond bedroht. Wie wir es schon einmal getan haben.«
»Kämpfen?« Themistokles' Blick glitt über die schwarze Rüstung, die Priwinn trug, und ganz kurz auch über Kims Hemd, fast als könnte er das Schwert sehen, das darunter verborgen war. »So wie dein Freund, der wieder einmal zum Schwert gegriffen hat? O nein, Kim. Der Feind, der uns diesmal bedroht, kommt nicht von außen. Er sitzt in uns selbst. Die Zeit der Magie ist einfach vorbei. Vielleicht wird Märchenmond allzubald nicht mehr das Land der Träume, der Märchen sein. Und wenn seine Bewohner es so wollen, habe ich weder das Recht noch die Macht, es zu verbieten. Ich bin alt geworden, Kim. So wie euer Freund Rangarig zu einem bösen, alten Drachen wird, so werde ich zu einem müden, alten Mann. Ich kann euch nicht helfen.«
»Ihr sagt nicht die Wahrheit!« begehrte Priwinn wütend auf. »Nicht alle hier wollen es so. Nicht alle sind damit einverstanden, daß der Zauber verschwindet.«
»Ich weiß«, sagte Themistokles. »Du und deine Freunde, ihr kämpft dagegen. Aber euer Weg ist falsch. Er wird euch nicht zum Ziel fuhren. Und ich kann euch nicht ewig schützen. Davon abgesehen - was wollt ihr tun? Die anderen mit Gewalt zwingen, wieder zu ihrem früheren Leben zurückzukehren?«
»Wenn es sein muß - ja«, meinte Priwinn entschlossen. »Und wenn sie nicht wollen? Willst du einen Krieg entfachen? Willst du Bruder gegen Bruder kämpfen lassen, Vater gegen Sohn? Das Schwert ist da keine Lösung, Prinz Priwinn.«
»Dann sagt mir eine andere!« verlangte Priwinn.
»Das kann ich nicht«, entgegnete Themistokles.
»Und ... und wenn ich noch einmal zum Regenbogenkönig gehe?« schlug Kim vor. Prinz Priwinn blickte ihn überrascht an, während in Themistokles' Augen ein Ausdruck erschien, als hätte er genau auf diesen Vorschlag gewartet. »Das wäre sinnlos«, sagte er dann. »Er hat uns einmal geholfen, das stimmt. Doch diesmal kann selbst er nichts für uns tun.«
»Aber warum hast du dann unseren Freund gerufen!« rief Priwinn aufgebracht und deutete auf Kim.
»Er kennt die Antwort«, sprach Themistokles. »Er weiß es selbst noch nicht, aber die Lösung aller Rätsel ist tief in ihm verborgen. Und es ist deine Aufgabe, Prinz von Caivallon, ihm zu helfen, die Antwort zu finden.«
Bevor Priwinn etwas erwidern konnte, wurde von draußen lautstark gegen die Tür gehämmert, und eine herrische Stimme verlangte Einlaß. Kim und der Steppenreiter tauschten einen alarmierten Blick und wollten aufstehen, aber Themistokles machte eine beruhigende Geste und rief mit lauter, sehr ruhiger Stimme: »Bitte?!«
Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen, und zwei Männer in der Uniform, wie sie die Wächter am Tor getragen hatten, stürmten herein. Sie waren nicht allein. Hinter ihnen wieselte eine nur kindsgroße, dürre Gestalt mit einem schmutzigen, spitzen Gesicht herein. Als Kim und Priwinn nun dieses Gesicht erkannten, da sprangen sie von ihren Stühlen auf. Es war jener Zwerg, dem Kim und Gorg nur mit Mühe entkommen waren.
Priwinn schlug mit einem Fluch seinen Umhang zurück und zog sein Schwert, und auch Kim zog seine Waffe unter dem Hemd hervor. Der Zwerg sprang mit einem erschrockenen Quietschen wieder zurück, während seine beiden Begleiter ebenfalls nach den Klingen griffen.
»Die Waffen weg!«
Themistokles' Stimme schnitt wie der Knall einer Peitsche durch den Raum, und plötzlich war es ganz und gar nicht mehr die Stimme eines müden, alten Mannes. Ihr Klang war so befehlend, daß Kim fast erschrocken den Dolch wieder einsteckte. Und auch Priwinn und die beiden Soldaten senkten ihre Schwerter.
»Was fällt Euch ein, in meinem Gemach Waffen zu ziehen?« herrschte Themistokles sie an. »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«
»Die beiden da!« kreischte der Zwerg. Er hatte wohl gesehen, daß Themistokles' Zorn ihnen allen galt, seine beiden Besucher eingeschlossen, und bekam jetzt sichtlich wieder Oberwasser. »Das sind sie! Ergreift sie! Ich verlange, daß sie auf der Stelle eingesperrt werden!«