Kim blieb stehen und riß ungläubig die Augen auf.
Direkt vor seinen Füßen befand sich ein gut fünf Meter durchmessender Krater, der vorher noch nicht dagewesen war.
Die Erde rauchte, und im Herzen der Grube, die in den Waldboden getrieben worden war, lag eine abgerissene Klaue. Sie war größer als die Rangarigs, gebogen und messerscharf, und ihr zerfetztes Ende glühte in einem dunklen, drohenden Rot.
Sie bestand aus Eisen!
Kims Kopf flog mit einem Ruck in den Nacken. Der Schatten, noch immer von Rangarig verfolgt, war schon fast außer Sichtweite gekommen.
»Verdammt«, murmelte Gorg, der zusammen mit Priwinn neben Kim aufgetaucht war. Auch er starrte voller Unglauben hinunter auf die Stahlklaue. Priwinn sagte nichts. Aber Kim konnte sogar in der Dunkelheit erkennen, daß er leichenblaß geworden war.
Der Riese machte einen Schritt in den Krater hinein, beugte sich vor und hob die Kralle behutsam auf. Sein Gesicht zuckte, so heiß war ihr rotglühendes Ende, obwohl er es so weit von sich forthielt, wie er nur konnte.
Kim schauderte. Die Kralle war so groß wie seine Sense und zehnmal so scharf. Sich das dazugehörige Wesen vorzustellen, überstieg einfach seine Phantasie. Und selbst, wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er es ganz bestimmt nicht gewollt.
»Wirf ... das weg«, krächzte Priwinn.
Gorg gehorchte sofort. Beinahe angewidert ließ er die Kralle fallen und trat wieder aus dem Krater heraus.
»Was ist das?« flüsterte Kirn fassungslos. Aber schon keimte ein dunkler Verdacht in ihm. Allein die bloße Vorstellung war so schrecklich, daß er sich einfach weigerte, den Gedanken zu Ende zu denken.
Priwinn starrte ihn an, als wäre all dies hier Kims Schuld. »Die Zwerge«, sagte der Prinz. »Wir ... wir argwöhnen schon lange, daß sie an etwas in dieser Art arbeiten.«
»Du glaubst, sie ... sie haben einen eisernen Drachen gebaut?« keuchte Kim.
Plötzlich schrie Priwinn ihn an: »Wie viele Beweise brauchst du denn noch, du Narr? Frag doch Rangarig, wenn er zurückkommt!«
Kim schwieg. Er nahm dem Prinzen seine Entgleisung kein bißchen übel. Er wußte, daß der Steppenprinz innerlich vor Angst fast verrückt sein mußte. Kim selbst erging es ja nicht anders. Auch er hätte am liebsten irgend jemanden angeschrien oder sogar - geschlagen.
Dieser Gedanke ernüchterte Kim wieder.
Mit einem Male begriff er, was in Priwinn und den anderen vorging. Jetzt spürte er selbst diese schon fast körperlich schmerzende Hilflosigkeit, die einfach danach schrie, einen Schuldigen zu finden, einen, den man für alles büßen lassen konnte, ob er es nun verdiente oder nicht. Er billigte Priwinns Verhalten nicht - aber er verstand es plötzlich.
Und fast im gleichen Augenblick wußte Kim nun, was er zu tun hatte. Die Lösung war so einfach, daß er sich verblüfft fragte, warum er nicht gleich darauf gekommen war. »Ich werde euch helfen«, sagte er.
Priwinn riß die Augen auf. »Du wirst -«
»Ich werde bestimmt nicht diese Rüstung anziehen und an eurer Spitze in die Schlacht gegen eure Brüder reiten«, unterbrach ihn Kim rasch. »Aber ich werde euch helfen. Wie ich schon Themistokles sagte: Wir müssen noch einmal zum Regenbogenkönig! Wir müssen die Reise noch einmal machen! Er wird uns beistehen, er muß uns helfen, da bin ich ganz sicher!«
»Das ist verrückt!« entgegnete Priwinn, wenn auch nicht mehr ganz so heftig wie zuvor. »Noch einmal durch die Klamm der Seelen, wo der Tatzelwurm haust, und den unterirdischen Fluß entlang? Von Burg Weltende ganz zu schweigen! Das dauert zu lange!«
»Vielleicht«, sagte Kim. »Aber wie lange würde es dauern, jeden einzelnen Eisenmann zu zerschlagen und alle Zwerge in den östlichen Bergen aufzustöbern? Viel länger, da wette ich.«
Priwinn wollte erneut widersprechen, aber der Riese kam Kim zu Hilfe. »Er hat recht, mein Prinz«, sagte er. »Wir haben es einmal geschafft, und wir werden es wieder schaffen. Was den Tatzelwurm angeht...«
»Der Tatzelwurm lebt?«
»Aber ja doch. Weißt du denn nicht mehr? Nachdem der Zauberer Boraas besiegt war, kehrten alle, die wir totgeglaubt haben, wieder ins Leben zurück. Rangarig ist ihm damals entkommen, und er wird es auch noch diesmal schaffen. Der Rest findet sich.«
Priwinn war nicht überzeugt. Aber er widersprach nicht, sondern starrte einen Moment lang abwechselnd Gorg und Kim an, ehe er schließlich mit den Schultern zuckte. »Laßt uns hören, was Rangarig dazu meint«, sagte er.
Es dauerte noch eine geraume Weile, bis der Drache zurückkam. Er setzte nicht sofort zur Landung an, sondern kreiste ein paarmal über dem Wald, wobei seine Klauen wütend in die leere Luft oder nach den Wipfeln der Bäume schlugen und sie zerfetzten. Als er schließlich landete, da bewegte er sich so unruhig weiter, daß sie es nicht wagten, in Reichweite seiner Schwingen und des zuckenden Schweifes zu kommen. »Rangarig!« schrie Priwinn. »Was war das? Hast du es zerstört?«
»Zerstören!« brüllte der Drache. »Ja. Zerfetzen. Zerreißen. Zerstören. Reißen. Fetzen. Töten. Töten. Töten! Jaaaaa!« Rangarig gebärdete sich wie wild. Seine Krallen packten einen Baum und zerknickten ihn, wie Kim einen dürren Ast zerbrochen hätte. Schaum troff aus seinem Maul. »Zerreißen!« Er war schaurig.
»Rangarig - bitte wach auf!« keuchte Kim. »Wir sind es. Deine Freunde!«
Rangarigs Kopf ruckte herum. Seine gewaltigen Augen fixierten Kim, und für eine Sekunde sah Kim darin nichts anderes als das, was er auch im Blick des Bären gesehen hatte: Es war der Blick eines wilden, mordlüsternen Ungeheuers. »Zerreißen«, knurrte Rangarig. »Töten. Jaa!«
Kim machte einen Schritt auf den Drachen zu. Priwinn stöhnte entsetzt und wollte ihn zurückreißen, aber Kim wich seiner Hand aus und ging weiter auf Rangarig zu. Sein Blick blieb unablässig auf die riesengroßen Drachenaugen gerichtet.
»Komm zurück!« rief Priwinn verzweifelt. »Er bringt dich um!«
Kim ging weiter. Er war ganz und gar nicht sicher, ob Priwinn nicht recht hatte. Er fürchtete sich. Sein Herz jagte, und seine Knie zitterten so heftig, daß er Mühe hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Aber er wußte, daß er nicht mehr zurück konnte. Wenn er jetzt versuchte, sich herumzudrehen und davonzulaufen, das war klar, dann würde Rangarig ihn unweigerlich töten.
»Bitte, Rangarig«, flüsterte Kim. »Komm zu dir! Ich bin es, Kim. Wir sind deine Freunde. Bitte, erinnere dich!« Der Drache war immer noch im Taumel. Seine Krallen rissen Gräben in den Boden. »Zerfetzen. Töten. Ja, ja, jaaaaaaa!«
»Nein«, murmelte Kim. »Das ist falsch. Wir sind nicht deine Feinde. Du bist kein böser Drache, Rangarig. Erinnere dich! Wach auf! Komm zu dir, bitte!«
Und langsam, ganz, ganz langsam, erlosch das mörderische Feuer in Rangarigs Augen. Es dauerte lange, sehr lange, während Kim mit klopfendem Herzen und zitternden Händen und Knien dastand und dem Drachen zusah, wie dieser unendlich mühevoll wieder zu dem wurde, was er einst war: Rangarig, der Golddrache aus Gorywynn, Freund und Beschützer Märchenmonds.
Kim seufzte erleichtert auf, machte einen letzten Schritt und schlang die Arme um Rangarigs mächtigen Hals. Zitternd preßte er sich gegen das schuppige Gesicht des Drachen und stand einfach da mit geschlossenen Augen. »Oh, Rangarig«, schluchzte er. »Ich ... ich dachte schon, wir hätten dich verloren.«
Der Drache antwortete nicht, aber plötzlich benetzte etwas Warmes Kims Gesicht und seine Hände, und als er aufsah, da erkannte er, daß es eine dicke Träne war, die aus Rangarigs Augenwinkel rollte. Der Drache weinte.
»Bald, mein kleiner Freund«, flüsterte er. »Bald werde ich dein Feind sein. Geh, solange du es noch kannst.«
»Niemals«, antwortete Kim. »Ich bleibe bei dir, wir alle bleiben bei dir. Zusammen werden wir es schaffen. Wir ... wir werden dieses eiserne Ungeheuer besiegen. Wir alle zusammen. Du hast es doch schon vertrieben!«