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»Es ist stärker als ich«, antwortete Rangarig. »Sie haben es nur zu früh losgeschickt, es ist noch nicht fertig. Aber bald werde ich es nicht mehr besiegen können. Und wenn, dann wäre ich nach dem Sieg nicht mehr ich selbst.« Er stieß Kim sanft mit der Schnauze an, so daß dieser ein paar Schritte zurücktorkelte.

»Ich muß euch verlassen«, sagte er. »Jetzt.«

»Nein!« rief Kim verzweifelt. »Du täuschst dich, Rangarig. Du hast diese fliegende Bestie besiegt, und du wirst sie wieder besiegen!«

»Begreifst du denn nicht, daß es nicht dieses Monstrum ist, gegen das ich kämpfe?« brummte Rangarig. Die Tränen waren versiegt, und für einen winzigen, schrecklichen Moment blitzte wieder diese Wut in seinen Augen auf, die Kim so sehr erschreckt hatte. »Es ist nicht allein der Stahldrache! Ich selbst bin es, den ihr fürchten müßt! Solange ich bei euch bin, wird er euch verfolgen. Und er wird mich besiegen, um danach euch zu töten. Oder ich werde ihn besiegen. Aber dann werde ich es sein, den ihr fürchten müßt. Es läßt sich nicht ändern. Ich muß gehen.«

»Noch einen Moment!« flehte Kim. »Bitte, nur noch einen Augenblick. Ich weiß, wie ich euch helfen kann!«

Der Drache hatte bereits halb die Flügel gespreizt, hielt aber jetzt noch einmal inne.

»Ich werde es noch einmal tun«, sprudelte Kim hervor. »Ich gehe zum König der Regenbogen. Er wird uns helfen. Er hat Märchenmond schon einmal gerettet! Aber ich schaffe es nicht dorthin ohne dich. Der Weg ist zu weit. Bitte!« Der Drache überlegte. Sein Blick glitt über Kims Gesicht, dann sah er zu seinen beiden Freunden hinüber, und schließlich wieder zu Kim. »Du kennst die Gefahren, die auf dem Weg dorthin lauern«, sagte er schließlich.

»Sie sind nicht größer als die, die hier auf uns warten«, antwortete Kim. »Bitte, Rangarig! Bring uns hin.«

Noch einmal zögerte der Drache. Wieder blickte er Priwinn und Gorg an, und obwohl Kim nicht hinsah, spürte er, wie der Riese nickte.

»Also gut«, meinte Rangarig endlich. »Bis zur Klamm der Seelen und dem See des Tatzelwurms. Du kennst die Spielregeln.«

In Kims Hals saß plötzlich ein bitterer, stacheliger Kloß. O ja, und ob er die Spiekegeln kannte. Es gab nur einen Weg, den schrecklichen Tatzelwurm zu überwinden, der den Eingang des unterirdischen Flusses bewachte: nämlich den, daß ihn ein gleichwertiger Gegner zum Kampf herausforderte. Es war nun einmal so.

Und auch das gehörte zu den Regeln: daß kaum einer den Kampf mit dem Tatzelwurm überlebte.

Mit einem Gefühl tiefen, unendlich tiefen Schmerzes wurde sich Kim der Tatsache bewußt, daß Rangarig soeben diese Todesgefahr auf sich genommen hatte.

Da der Weg weit und Rangarig erschöpft und verletzt war, brauchten sie mehr als eine Woche, um die Berge zu erreichen, in denen die Klamm der Seelen lag. Vieles gab es auf dieser Reise, das Kim zutiefst erschreckte.

Das Land, über das sie hoch am Himmel hinwegglitten, war nicht mehr zu erkennen. Zuerst war die Veränderung noch geringfügig und kaum sichtbar: eine neue Straße, eine Stadt, die Kim nicht kannte, ein künstlich begradigter Fluß, ein Feld, das etwas größer war als früher. Aber sie wurde größer, je weiter sie nach Norden kamen, bis selbst Kim die Augen vor der Wahrheit nicht mehr verschließen konnte. Die Städte waren groß und finster, und manche, die wie kleine Spielzeugdörfer unter ihnen hinwegglitten, sahen aus, als wären sie völlig aus Eisen erbaut. Es gab Straßen, die so breit waren, daß sie wie Flüsse aus schwarzem Metall unter ihnen lagen, und auf denen zehn Wagen nebeneinander fahren konnten. Die Flüsse zwängten sich jetzt in linealgeraden Betten aus Eisen, in denen rostbraunes Wasser sprudelnd dahinschoß, alles mit sich reißend, was versuchte, auf den metallenen Böschungen Fuß zu fassen.

Und dann gab es die Feuer.

Sie sahen sie in der ersten Nacht, in der sie ihr Lager aufschlugen: ein blasser, rötlicher Glanz weit hinter ihnen, gerade, daß er über den Horizont strahlte. Sie sahen sie auch in der Nacht darauf und in der nächsten - überhaupt in jeder, bis sie die Berge erreichten. Und manchmal, wenn der Wind günstig stand, wehte er das Echo von klingenden Hammerschlägen zu ihnen. Irgend jemand verbrachte die Nächte damit, etwas Bestimmtes zu schmieden und zu hämmern, während Rangarig seine Wunden leckte, die er im Kampf mit dem Stahldrachen davongetragen hatte. Manchmal konnte Kim sehen, wie Rangarig den Kopf schräg legte und lauschte. Auch Priwinns Gesichtsausdruck war von tiefer Sorge gezeichnet, wenn er abends dastand und nach Süden blickte. Und - so schien es - die Feuer kamen immer näher. Jede Nacht nur ein bißchen. Ganz langsam, aber unerbittlich.

Die letzte Nacht, bevor sie die Klamm der Seelen erreichten, verbrachten sie noch einmal auf einem Hochplateau; einem kargen, völlig unzugänglichen Stück Fels, das schon zum Schattengebirge gehörte. Keiner von ihnen schlief sehr gut in dieser Nacht, und als Kim lange vor Sonnenaufgang erwachte, stellte er fest, daß alle anderen bereits aufgestanden waren.

Priwinn und Gorg hatten ein Feuer entzündet, um das sie herumsaßen und sich mit gedämpften Stimmen unterhielten, zwei völlig ungleiche Schatten, die sich zum Schutz vor der Nachtkälte eng nebeneinandergesetzt hatten und die Hände über den Flammen rieben. Auf der anderen Seite des Feuers saßen zwei kleinere, auch völlig unterschiedliche Schatten - Bröckchen und Sheera, unzertrennlicher denn je, die aber mit jeder Stunde, die sie sich der Klamm der Seelen näherten, auffallend ruhiger und ernster wurden.

Kim fühlte sich plötzlich sehr einsam.

Umständlich wickelte er sich aus der Decke, in die er sich am vergangenen Abend eingerollt hatte, stand auf und wollte zum Feuer hinübergehen, denn die Kälte biß wie mit gläsernen Zähnen in seine Haut. Aber dann streifte sein Bück das Gesicht des Drachen, und er sah, daß Rangarig ebenfalls schon wach war, und er zögerte. Priwinn hob den Kopf und sah zu Kim herüber, aber Gorg machte eine abwehrende Bewegung, als der Prinz etwas sagen wollte. Kim blieb eine Weile völlig reglos stehen, und als er sich dann endlich in Bewegung setzte, ging er auf Rangarig zu und nicht zum Feuer, obwohl die Kälte immer grausamer wurde.

»Guten Morgen, kleiner Held«, begrüßte ihn der Drache. Nach der knurrigen, unwirschen Art, in der er sich die letzten Tage benommen hatte, waren dies recht ungewöhnliche Worte.

»Hai ... lo«, sagte Kim verlegen. Plötzlich schien sein Kopf wie leergefegt. Er erinnerte sich an nichts mehr von alledem, was er hatte sagen wollen. Es erschien ihm alles so überflüssig.

»Ich ... ich wollte dir noch etwas sagen, Rangarig«, versuchte es Kim stockend; und obwohl er all seine Willenskraft aufbot, war es ihm plötzlich nicht mehr möglich, dem Blick der riesigen Drachenaugen standzuhalten.

»Ich höre.«

»Du mußt nicht mitkommen«, sagte Kim. »Ich meine, zum Verlorenen See. Du ... du hast uns bis hierher gebracht, und vielleicht ... vielleicht bringst du uns noch bis zur Klamm der Seelen, aber danach können wir allein weitergehen.«

»Du weißt genau, daß ihr das nicht könnt«, brummte Rangarig.

»Wieso? Nur weil -«

»Weil es nun einmal so ist«, unterbrach ihn der Drache, »daß die Fahrt über den See des Tatzelwurms mit Blut erkauft werden muß. Er verlangt ein Leben, um den Weg freizugeben. Versucht ihr, ihn um seinen Lohn zu betrügen, so wird er euch alle töten.«

»Aber wieso muß es ausgerechnet deines sein?« fragte Kim verzweifelt.

»Das muß es nicht«, antwortete der Drache. Kim blickte ihn überrascht an, und Rangarig machte eine Kopfbewegung zum Feuer hin. »Wen deiner Freunde willst du opfern? Priwinn? Gorg? Den komischen kleinen Kerl, der bei dir ist? Oder den Kater?«

»Das ... das ist nicht fair«, stammelte Kim.

»Fair?« Rangarig gab ein Geräusch von sich, das ein Lachen sein mochte - oder auch das genaue Gegenteil. »Wer hat jemals behauptet, daß das Leben fair ist?« fragte er. »Also - wen willst du opfern? Dich vielleicht?«