»Hör auf!« schrie Kim. »Du ... du weißt, daß ich das nicht gemeint habe.«
»Natürlich«, sagte Rangarig. »Und du weißt, daß es nur einen Weg vorbei am Tatzelwurm gibt.« Er lachte grollend. »Ich habe ihn schon einmal verdroschen, hast du das schon vergessen? Ich werde ihm einen Knoten in seinen schmutzigen Hals machen. Ich denke, das hält ihn lange genug auf, daß ihr vorbei kommt.«
»Aber du wirst sterben«, murmelte Kim.
Plötzlich wurde der Drache sehr ernst. »Das mag sein. Doch ich sterbe für euch. Für Märchenmond.«
Als ob das ein Trost wäre! Der Tod war schlimm, dachte Kim, und der Tod eines Freundes war doppelt schlimm. Aber ihn als Preis für etwas zu bezahlen - das war entsetzlich.
»Ich werde ohnehin sterben«, sagte Rangarig plötzlich. »Hast du vergessen, was mit mir geschieht? Den Rangarig, den du kennst, kleiner Held, den wird es bald nicht mehr geben, so oder so. Ich spüre es. Etwas Wildes erwacht in mir, Kim. Bald schon, vielleicht in wenigen Tagen, werde ich nicht mehr das sein, was ich bisher war.«
»Aber du wirst leben!«
»Werde ich das?« fragte Rangarig. »Dann sag mir eines, kleiner Held. Wo liegt der Unterschied, ob ich sterbe, weil mein Körper zerstört wird oder meine Erinnerung. Bin ich nicht so gut wie tot, wenn ich eines Morgens die Augen aufschlage und nicht mehr weiß, wer ich bin? Wenn ich dich vergessen habe und Priwinn und den Riesen und alle, die ich kannte? Mein Körper wird leben, und in ihm wird ... etwas sein. Ein neuer Rangarig. Aber sag mir - wer werde ich sein, wenn ich an jenem Morgen erwache?«
Kim hatte keine Antwort auf diese Frage, und wie sollte er auch? Sonst hätte er gewußt, was Leben bedeutet, und wer wußte das schon.
Rangarig lachte leise. »Oh, ihr Menschen! Ihr seid so klein und so tapfer. Ihr lebt nur kurz, verglichen mit einem Wesen wie mir, und doch vollbringt ihr in dieser kurzen Spanne wahre Wunderdinge; manchmal wenigstens. Wenn es euch in den Kram paßt, dann fordert ihr selbst die Götter heraus. Aber so etwas Natürliches wie der Tod bringt euch zur Verzweiflung. Es ist nichts Schlimmes daran, zu sterben. Ohne den Tod gibt es kein Leben.«
Kim schwieg sehr lange. Er hatte noch nie über diese Fragen nachgedacht.
»Weil du jung bist«, sagte Rangarig mitten in Kims Gedanken hinein. »Und nun geh. Geh zu deinen Freunden ans Feuer, wärme dich und iß etwas, wir haben einen langen und anstrengenden Weg vor uns.«
Sie flogen immer weiter nach Norden, und das Land unter ihnen wurde mit jedem Flügelschlag, den Rangarig tat, karger und unwirtlicher. Kim vermied es, so gut er konnte, nach unten zu blicken, denn jeder Fußbreit Boden hier war mit schmerzlichen Erinnerungen getränkt. Hier hatte er seinen größten Kampf gekämpft. Nie hatte er einen größeren Triumph und niemals größere Trauer verspürt.
»Irgend etwas stimmt hier nicht«, rief da Rangarig. Er war der einzige, der mit seiner mächtigen Drachenstimme das Heulen des Windes übertönen konnte; allen anderen wurden die Worte von den Lippen gerissen, kaum daß sie sie ausgesprochen hatten. »Zu viele Leute.«
Kim blickte verwundert nach unten. Sie flogen so hoch, daß er Mühe hatte, auch nur irgend etwas auszunehmen - geschweige denn einzelne Gestalten. Aber Rangarig hatte ja schon oft genug bewiesen, daß er über weitaus schärfere Sinne verfügte als sie.
Aber jetzt ging der Drache tiefer und flog langsamer. Tatsächlich entdeckten sie nun hier und da eine Hütte, einen kleinen Hof und einmal sogar ein ganzes Dorf mit einem Dutzend gedrungener, aus schwarzem Eisen erbauter Häuser. Dazwischen schlängelten sich Straßen dahin wie metallene Schlangen, und machmal blieb eine der winzigen Gestalten darauf stehen und blickte zu ihnen hoch.
Seltsam, bisher war Kim der Meinung gewesen, daß es so weit nördlich keine Ansiedlungen mehr gab. Die Nähe der Klamm der Seelen machte jedem angst. Niemand kam hierher, wenn es sich vermeiden ließ - und niemand wohnte hier. Wenigstens war das so gewesen, als sie das letzte Mal hierher kamen ...
Sehr viel langsamer als bisher und kaum in Höhe der Baumwipfel, glitt der Drache weiter. Sie schlugen einen großen Bogen um die Häuser, die sie aus der Höhe heraus betrachtet hatten, aber natürlich war es unvermeidlich, daß Rangarig trotzdem gesehen wurde. Kim war nicht wohl bei dem Gedanken, daß irgend jemand wußte, wohin sie reisten. Aber eigentlich, versuchte er sich zu beruhigen, spielte das jetzt keine Rolle mehr.
Wenn sie erst einmal am Verlorenen See und am Tatzelwurm vorbei waren, würden ihre Verfolger sich schon etwas verdammt Schlaues einfallen lassen müssen, um weiter auf ihrer Spur zu bleiben.
Endlich kam die Klamm der Seelen in Sicht. Kim erschauerte unwillkürlich, als er den klaffenden Riß im Boden erblickte, der das Land wie ein vielfach verästelter Blitz spaltete. So tief, daß sein Grund nicht mehr zu sehen war, und von einer Schwärze erfüllt, die wie ein eisiger Hauch seine Seele berührte. Deshalb auch der Name dieser Schlucht: Sie war die Heimat der Angst. Nichts und niemand, ganz gleich, ob groß oder klein, stark oder schwach, mutig oder feige, vermochte sich ihrem schwarzen Atem zu entziehen. Als sie das erste Mal hiergewesen waren, da hatte selbst Rangarig vor Angst geschlottert.
Diesmal tat er es nicht.
Es sollte noch eine Welle dauern, bis Kim begriff, daß sich auch dieser Teil Märchenmonds verändert hatte. Er spürte zwar ein gewisses Unbehagen, aber das kam wohl eher aus der Dunkelheit unter ihnen und aus Kims Erinnerung. Aber diese fürchterlich Angst, gegen die weder Mut noch Verstand ankamen, die fühlte er nicht. Die Schlucht unter ihnen war einfach nur bedrohlich wie jede tiefe Schlucht, nicht mehr und nicht weniger.
Da legte Rangarig die Schwingen an und stieß direkt in den schwarzen Schlund hinab. Als seine Krallen den Boden berührten, fröstelte Kim. Aber nur, weil es eiskalt hier unten war. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, daß ihre wärmenden Strahlen den Grund der Schlucht hätten erreichen können.
»Was ist hier geschehen?« flüsterte Gorg. »Es ... es ist weg. Ich spüre überhaupt nichts.«
»Ich auch nicht«, murmelte Priwinn. »Es ... es ist fort. Was immer diesem Ort innegewohnt hat, ist nicht mehr da.«
»Und was ist schlecht daran?« fragte Kim, dem selbst jetzt noch die Erinnerung an ihre letzte Durchquerung der Klamm in den Knochen saß. »Seid doch froh!«
Priwinn und auch Gorg blickten ihn an, als hätte er etwas unsagbar Dummes gesagt, und Rangarig sagte leise: »Auch die Angst hat ihren Platz in der Welt, Kim.«
»Also, ich komme ganz gut ohne sie aus«, meinte Kim. »Und wie willst du jemals mutig sein, wenn du keine Angst kennst?«
Darauf wußte Kim keine Antwort mehr.
Sie machten sich auf den Weg, und zumindest eines war gleichgeblieben - Kim wußte hinterher nicht mehr zu sagen, wie lange sie durch die Schlucht marschiert waren - es mochte eine Stunde gewesen sein, vielleicht aber auch nur wenige Minuten oder ein halber Tag. Endlich liefen sie um die letzte Biegung, und vor ihnen lagen der Verlorene See, wo der Tatzelwurm hauste, und die Grotte, in die der Fluß verschwand.
Besser gesagt: der Ort, an dem beides einmal gewesen war. Der See war noch da, aber es war nicht mehr der wilde, von zerschrundenen Felsnadeln gesäumte See des Ungeheuers, sondern ein flacher, kreisrunder Spiegel, der von schwarzem Eisen eingefaßt wurde. Sein Wasser war so klar, daß man bis auf den Grund hinab sehen konnte, obwohl dieser sicherlich hundert Meter unter der Oberfläche lag. Nichts regte sich in dem kristallklaren Wasser, kein Fisch, keine Pflanze - und schon gar kein Tatzelwurm.
Und das allein war noch nicht das schlimmste. Dort, wo früher der Verschwundene Fluß begonnen hatte, war - nichts mehr.
In den einst unübersteigbaren Felsen am gegenüberliegenden Flußufer klaffte jetzt eine gewaltige, dreieckige Bresche. Ihre Flanken bestanden aus schwarzem Eisen, und an ihrem Grund glitzerte dasselbe, von allem Leben verlassene Wasser, das auch den See füllte. Diese gewaltige künstliche Schlucht erstreckte sich so weit, wie das Auge reichte, ehe sie in grauer Entfernung verschwamm.