»Wo ... wo ist er?« flüsterte Kim fassungslos.
»Vielleicht ist er tot?« murmelte Priwinn.
»Nein«, antwortete Rangarig. »Der Tatzelwurm lebt.« Priwinn sah ihn groß an: »Woher willst du das wissen?«
»Weil ich lebe«, erklärte Rangarig. »Wäre er tot, wäre ich es auch. Er ... muß geflohen sein. Die Eisenmänner haben ihn wohl vertrieben.«
»Der Tatzelwurm soll vor diesen ... Kreaturen geflohen sein?« fragte Priwinn. »Das glaube ich nicht!«
Kim starrte ihn an. Es war zu absurd. Der Tatzelwurm war die schlimmste aller Bestien, die er wie kein anderes Geschöpf Märchenmonds gefürchtet hatte - aber plötzlich fühlte Kim fast so etwas wie Mitleid mit ihm. Mühsam, als koste ihn die Bewegung gewaltige Kraft, drehte er sich herum und deutete auf die Stelle, an der einst der Eingang zum Verschwundenen Fluß gelegen und sein unterirdischer Lauf begonnen hatte. Kim hatte plötzlich das Gefühl, von einer unsichtbaren eisigen Hand berührt zu werden. Der Anblick der schnurgeraden, wie mit einem Messer gezogenen Bresche erfüllte ihn mit Angst. Er glaubte, Brobings Worte noch einmal zu hören: Sie können Berge versetzen. Er hatte es nicht geglaubt. Aber jetzt sah er es mit eigenen Augen.
»Warum haben sie das getan?« flüsterte Kim. Aber er wußte die Antwort. Brobing hatte sie ihm gegeben, lange bevor Kim die Frage überhaupt gekannt hatte: Es gibt neues Land. Und die Menschen brauchen neues Land.
Schließlich war es Prinz Priwinn, der als erster aus dem Bann erwachte, in den sie alle der fürchterliche Anblick geschlagen hatte. Mit einem erzwungenen Lächeln wandte er sich an Rangarig und sagte: »Ich fürchte, du kannst dich doch nicht so einfach davonschleichen, alter Freund. Wir brauchen deine Dienste dringend.«
XIV
Stunde um Stunde trugen Rangarigs Schwingen sie weiter nach Norden. Das Bild unter ihnen änderte sich nicht. Wo der unübersteigbare Fels des Schattengebirges gewesen war, an denen Märchenmond einst endete, da zog sich jetzt ein eiserner Fluß entlang, schnurgerade floß das Wasser, das klar wie Kristall, aber ohne jedes Leben war. Einmal glitten sie über ein buckliges schwarzes Schiff hinweg, das ohne Segel und gegen die Strömung auf dem Fluß fuhr und übelriechenden Qualm ausstieß.
»Was ist das?« schrie Kim über das Heulen des Windes und das Schlagen von Rangarigs gewaltigen Schwingen hinweg.
»Flußleute!« brüllte Priwinn zurück.
Seltsam, Kim hatte nie von ihnen gehört. Priwinn schien seine Ratlosigkeit zu spüren, denn er rief nach einer winzigen Pause - und in deutlich zornigem Ton: »Besser, man geht ihnen aus dem Weg. Es ist ein räuberisches Volk. Piraten! Niemand weiß genau, woher sie kommen, aber es heißt, daß es der Fluß ist, der sie verwandelt.«
»Du meinst, sie sind erst böse geworden, als sie -«
»- diesen Fluß betraten, richtig«, schrie Priwinn den Satz zu Ende. Sie hatten jetzt keine Kraft mehr, das Brausen und Rauschen rund um sie zu übertönen.
Dann und wann sahen sie jetzt sogar ein einsames Haus am Ufer des Eisenflusses, einen winzigen Hof, einmal sogar eine befestigte Stadt, deren graue Häuser sich hinter Wällen aus Eisen verbargen, obwohl es in dieser unwirtlichen Gegend rein gar nichts gab, wovor sich ihre Bewohner hätten fürchten müssen.
Kim schätzte, daß sie seit drei oder vier Stunden unterwegs waren, und sie mußten die Strecke, die Gorg, Priwinn und er damals unter der Erde in Tagen bewältigt hatten, schon fast hinter sich gebracht haben. Trotzdem war noch kein Ende des schnurgeraden Flußlaufes zu sehen. Rechts und links, so weit Kim auch blickte, war nichts als grauer Fels und scharfkantige, schwarze Lava. Der Gedanke, sich hier anzusiedeln, erschien ihm absurd - und falsch. Dieser Teil der Schöpfung war niemals dafür gedacht gewesen. Hier lag das schweigende Reich der Stille und der Einsamkeit, in der alles Leben nur zugrunde gehen konnte, auf die eine oder andere Art. Endlich begannen die Berge flacher zu werden. Der Fluß war noch immer da, und er strömte noch immer in einem Bett aus Eisen, aber aus den himmelstürmenden Lavanadeln zu beiden Seiten wurden allmählich flache Buckel, schließlich nur noch sanft gewellte Erhebungen und Hügel von brauner Farbe. Kims Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen. Sie näherten sich dem Land der Eisriesen, und bald mußte Burg Weltende in Sicht geraten. Dann würde sich alles entscheiden. Die Eisriesen würden wissen, was zu tun war; und wenn nicht sie, dann der Regenbogenkönig, der hinter dem großen Abgrund des Nichts lebte. Kim war schon einmal dort gewesen, und wenn es sein mußte, dann würde er den Weg noch einmal gehen, so schwer er auch war.
»Es ist zu warm«, rief Rangarig plötzlich.
Kim fuhr aus seinen Gedanken hoch und blinzelte verblüfft. Zu warm? Er fror erbärmlich, obwohl er sich in eine Decke gewickelt hatte, und Bröckchen, das wie immer unter sein Hemd gekrochen war, zitterte wie Espenlaub. Der Wind war so eisig, daß er Kim nicht nur die Tränen in die Augen trieb, sondern sie auch gleich auf seinem Gesicht gefrieren ließ.
»Also, mir ist es kalt genug!« brüllte er zurück. »Ich erstarre gleich zu einem Eiszapfen!«
»Du vielleicht«, knurrte Gorg hinter ihm. »Aber sieh hinab. Wo ist das Eis?«
Kim beugte sich leicht zur Seite, um an Rangarigs schuppigem Hals vorbei in die Tiefe blicken zu können. Unter ihnen zog sich eine schier endlose Einöde aus braunem Morast dahin, hier und da durchbrochen vom blinkenden Spiegel einer halbgefrorenen Pfütze. Kein Eis, so weit das Auge blickte.
»Es ist viel zu warm!« rief Rangarig noch einmal. »Ich gehe runter und sehe mir das an.«
Kim konnte sich auf Anhieb ungefähr zehntausend Dinge vorstellen, die er lieber täte, als in diesem endlosen Matsch herumzuwaten, aber Rangarig hatte bereits die Flügel angelegt und ging fast im Sturzflug nach unten. Als er landete, spritzte der Morast so hoch, daß er sie alle besudelte. Kim schimpfte, fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht und spuckte Schlamm und schmutziges Wasser aus. Auch Bröckchen ließ eine Schimpfkanonade los. Schaudernd sah sich Kim um. Nichts außer braunem Morast und Schlamm. Es war kalt. So kalt, daß sie alle mit den Zähnen klapperten - aber nicht halb so kalt, wie es hätte sein müssen. Wo war der Fluß? Wo waren die Eisriesen? Und vor allem - wo war Burg Weltende, der gewaltige Eispalast der Weltenwächter?
»Steigen wir wirklich ab?« fragte Kim.
Priwinn blickte stirnrunzelnd auf den schlammigen Boden herab. Rangarig war bis an den Bauch im braunen Morast versunken, was sicher an seinem gewaltigen Gewicht lag. Aber auch sie würden sich darin nur mühsam bewegen können.
Zu Kims Erleichterung sagte Gorg: »Wozu? Hier ist nichts mehr, was zu sehen lohnt. Findest du Burg Weltende, Rangarig?«
»Wenn ich hoch genug fliege - vielleicht«, überlegte Rangarig. »Aber das wird verdammt ungemütlich für euch.«
»Dann warten wir hier«, sagte Priwinn. »Kommt.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang er von Rangarigs Rücken und versank sofort bis an die Knie in weichem Schlamm. Kim verzog angeekelt das Gesicht, fügte sich aber in sein Schicksal und folgte Priwinn. Eine Sekunde später machten sie beide einen erschrockenen Hüpfer zur Seite, als auch Gorg in den Morast hinabsprang und sie mit einer neuen Fontäne aus braunem, klebrigem Matsch überschüttete. Rangarig wartete, bis sie sich ein paar Schritte entfernt hatten, dann stieß er sich ab und verschwand mit einem gewaltigen Satz im Himmel.
Kim blickte ihm nach, bis aus dem gewaltigen Drachen ein winziges goldenes Funkeln geworden war, das schließlich ganz verschwand. Er zitterte, aber es war nicht nur die Kälte, die ihn erschauern ließ. Etwas in dieser öden Mondlandschaft aus Schlamm und halbgefrorenen Pfützen machte ihm angst.