Und das Wunder geschah.
Im letzten Moment, als schon alle glaubten, der Drache müsse auf dem Boden zerschmettern, breitete Rangarig die Flügel aus, warf sich herum und fing seinen Sturz mit einer gewaltigen Kraftanstrengung wieder auf. Kaum einen Meter über dem Boden glitt er dahin, stieß plötzlich wieder in die Höhe und schraubte sich mit einer schier unmöglich erscheinenden Bewegung an seinem Gegner vorbei und über ihn. Als die Drachenmaschine die Bewegung nachvollziehen wollte, schoß eine gewaltige Feuerlohe aus Rangarigs Maul und hüllte sie ein.
Kim schloß geblendet die Augen, als das mechanische Ungeheuer in einem grellorangefarbenen Blitz explodierte. In weitem Umkreis regnete es Asche und weißglühende Trümmerstücke zu Boden.
»Er hat es geschafft!« jubelte Priwinn. »Er hat ihn vernichtet! Kim! Gorg! Wir sind gerettet!« Jubelnd sprang er herum, umarmte Kim und machte sogar Anstalten, einen der Zwerge an sich zu drücken, ehe er im letzten Augenblick begriff, wen er da vor sich hatte, und den Gnom angewidert wieder in den Schlamm stieß.
Kim war nicht ganz so freudig gestimmt wie der Steppenprinz. Voller Sorge betrachtete er Rangarig.
Der Golddrache torkelte. Seine Bewegungen wurden immer unsicherer. Er verlor an Höhe, drohte abermals abzustürzen und kam mit einem schwerfälligen Flügelschlagen noch einmal hoch. Aber er konnte seinen Kurs nicht mehr halten und beschrieb einen kren Zickzack am Himmel. Kim konnte sehen, daß aus seinen Schwingen große Stücke herausgerissen waren. Und überall zwischen seinen goldenen Schuppen waren große, blutige Wunden.
Priwinn wurde plötzlich wieder ernst und sagte an Jarrn gewandt: »Und jetzt - wie sagtest du gerade so treffend? Vielleicht können wir ja noch einmal über alles reden?« Jarrn starrte ihn haßerfüllt an. »Was willst du?« fauchte er. »Ich habe keinen Streit mit dir.«
»Aber ich mit dir«, antwortete Priwinn. »Und ich rate dir, mach keine Schwierigkeiten, sonst wirst du gleich erfahren, wie sich dein Blechfreund da oben gefühlt hat.«
»Ich fürchte, das erfahren wir gleich alle«, rief Bröckchen. Priwinn betrachtete ihn eine Sekunde lang stirnrunzelnd - und dann flog sein Kopf mit einem Ruck in den Nacken, als er begriff, was das Tierchen meinte.
Rangarig hatte aufgehört, wie betrunken in der Luft herumzutorkeln. Er schoß wie ein Pfeil heran, die Schwingen eng an den Körper angelegt, mit aufgerissenem Maul und weit geöffneten Krallen! »Zerreißen!« brüllte er. »Töten! Ja! Jaaa!«
Wahrscheinlich war es einzig der Umstand, daß der Drache zu Tode erschöpft und halb von Sinnen vor Schmerz und Zorn war, der ihnen allen das Leben rettete. Die Freunde stürzten in verschiedene Richtungen davon, und auch die Zwerge suchten kreischend das Weite, soweit ihre Fesseln dies zuließen, aber Rangarig war viel zu schnell, als daß dies noch irgend etwas genutzt hätte. Kim hatte noch nicht einmal richtig begriffen, was überhaupt geschah, da war der Drache auch schon über ihnen.
Entsetzt warf sich Kim in den Schlamm und schlug die Arme über den Kopf. Eine grellweiße Feuerlohe waberte über ihn hinweg und verwandelte ein fußballgroßes Stück des Morastes in Dampf. Eine brüllende Explosion aus Wasser und Schlamm schoß hoch und hüllte den Drachen ein. »Jaaaaaa!« brüllte Rangarig. »Tööööööten!«
Hustend stemmte Kim sich auf Hände und Knie hoch, sah aus tränenden Augen eine Bewegung neben sich und kroch hin.
Es war einer der Zwerge. Er war gestürzt und aufs Gesicht gefallen, und da er an Händen und Füßen gefesselt war, drohte er an dem Matsch zu ersticken, der seinen Mund und die Nase verklebte. Kim riß ihn in die Höhe, säuberte sein Gesicht hastig mit den Händen und schüttelte ihn solange, bis er keuchend wieder zu atmen begann. Erst dann erkannte Kim, daß es Jarrn war. Und Jarrn erkannte wohl auch ihn, denn er dankte ihm seine Lebensrettung damit, daß er versuchte, ihm in den Finger zu beißen. Kim schubste ihn in den Matsch zurück (wobei er aber darauf achtete, daß er nicht wieder mit dem Gesicht in den Schlamm fiel) und sah sich hastig nach Rangarig um. Der Drache hatte sich torkelnd ein Stück weit entfernt. Er versuchte, seine Höhe zu halten und gleichzeitig kehrtzumachen, aber seine Kräfte schienen endgültig erschöpft: Er wankte, kippte plötzlich zur Seite und krachte schwer aus der Höhe zu Boden.
Fast ohne es zu wollen, sprang Kim auf die Füße und watete durch den knietiefen Morast auf Rangarig zu, so schnell er konnte. Hinter sich hörte er Priwinn aufschreien, und auch der Riese brüllte ihm nach, zurückzukommen. Aber Kim hörte gar nicht zu, sondern rannte weiter, so schnell ihn seine Beine nur trugen. Sein Herz hämmerte zum Zerspringen, als er den Drachen endlich erreichte, und seine Kehle brannte, als hätte er versucht, gemahlenes Glas zu atmen.
Rangarig lag auf der Seite. Eine seiner gewaltigen Schwingen schien gebrochen zu sein, denn er brachte es nicht fertig, sie zu entfalten. Aus seiner Brust drangen rasselnde, mühsame Atemzüge. Kim stöhnte auf, als er die fürchterlichen Wunden sah, die der stählerne Feind Rangarig zugefügt hatte.
Dann fiel sein Blick auf das schuppige Gesicht, und er erstarrte.
Das war nicht mehr Rangarig. Sein Gesicht war blutig und zerschlagen wie sein ganzer Körper, aber das war nicht das Schlimme; Rangarig war ein gewaltiges Wesen, das selbst diese Verletzungen überleben würde. Jedoch seine Augen waren nicht mehr die des goldenen Drachen, den sie kannten und mochten.
Es waren die Augen eines Ungeheuers.
Sein Blick fixierte Kim, und alles, was darin stand, war Mordgier und Haß. Ein zielloser, unbändiger Haß auf alles, was lebte und sich bewegte; die Raserei eines Monsters, das zu nichts anderem als zur Vernichtung erschaffen worden war. Die zerschlagenen Kiefer öffneten sich, Blut und Schaum troffen in den Morast, und tief, tief in Rangarigs Kehle sah Kim ein unheimliches Feuer aufglühen. Ein Hauch wie der Atem der Hölle kam daraus hervor.
»Bitte, Rangarig«, flüsterte Kim. »Bitte, komm doch wieder zu dir!«
Der Drache knurrte. Mühsam hob er eine Tatze und versuchte nach Kim zu schlagen, aber nicht einmal mehr dazu reichten seine Kräfte. Seine gewaltige Brust hob und senkte sich in schweren, unregelmäßigen Stößen, und der Schlamm färbte sich in weitem Umkreis um seinen Körper rosarot, weil er aus zahllosen Wunden blutete.
»Zerrissen«, grollte er. »Ich habe ihn ... zerrissen. Jaaaaaa.«
»Das hast du«, sagte Kim. »Du hast ihn besiegt. Niemand ist dir gewachsen, Rangarig. Du hast uns allen das Leben gerettet.«
»Zerrissen«, wiederholte Rangarig. Sein Blick flackerte. Für einen Moment glaubte Kim so etwas wie Erkennen darin zu sehen, das aber sofort verging, und Rangarigs Augen waren wieder die eines Killers, der ihn nur aus dem einzigen Grund noch nicht umgebracht hatte, weil er im Moment einfach nicht die Kraft dazu hatte. Kim begriff plötzlich, daß ihm vielleicht nur noch Sekunden blieben, um davonzulaufen. Aber statt dessen trat er einen weiteren Schritt auf den Drachen zu. »Komm zu dir, Rangarig - ich flehe dich an! Du mußt mich doch erkennen!«
»Geh«, flüsterte Rangarig heiser. »Rette dich!«
»Du erkennst mich?!« Kim jubelte innerlich. Er hatte Rangarig einmal zur Vernunft gebracht, und es würde ihm wieder gelingen. »Du erkennst mich!« sagte er noch einmal. »Jetzt wird alles wieder gut!«
»Erkennen, jaaaa«, stöhnte Rangarig. »Mensch. Hasse ... alle. Geh, ehe ich dich ... zerreiße. Zerreißen, jaaaaa. Töten. Alles töten. Jaaaaaa.«