Jemand trat hinter Kim, aber er drehte sich nicht einmal herum, bis Gorg ihm die große Hand auf die Schulter legte und leise sagte: »Komm jetzt. Du kannst nichts mehr für ihn tun.«
»Nein!« schrie Kim. Er versuchte, Gorgs Hand abzustreifen, aber der Riese hielt ihn fest gepackt.
»Wir müssen weg hier«, sagte Gorg. »Wir müssen verschwinden, ehe er wieder zu Kräften kommt. Er wird uns alle töten!«
»Töten, jaaaaa«, grollte es aus Rangarig.
»Rangarig ist mein Freund!« protestierte Kim. »Er würde mir nie etwas tun!«
Der Riese schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Kim«, sagte er. »Das war er einmal. Jetzt ist er nicht mehr der alte Rangarig. Dieser Drache ist jetzt unser Feind.«
Und Kim wußte, daß Gorg die Wahrheit sprach.
Kim hatte sich geirrt, obwohl Rangarig es ihm vorausgesagt hatte.
Sie alle hatten sich geirrt, was den Ausgang des Kampfes anging. Rangarig hatte seinen Feind vernichtet. Aber am Ende schien doch der Drache aus Stahl und Feuer den aus Fleisch und Blut besiegt zu haben.
Mit ein paar aus ihren kleinen Mänteln herausgerissenen Stoffstreifen hatten sie die Zwerge aneinandergebunden, so daß sie zwar gehen, aber nicht ernsthaft an eine Flucht denken konnten. Dann waren sie allesamt in großer Eile losgelaufen; in keine bestimmte Richtung, sondern zuerst einmal nur fort, um so viel Entfernung wie nur möglich zwischen sich und den Drachen Rangarig zu legen. Es war schwer, in dieser monotonen Einöde aus Morast und Wasserlöchern eine Entfernung zu schätzen, und noch schwerer, ein Zeitgefühl zu behalten.
Der Schlamm war klebrig wie Sirup und manchmal so tief, daß Km bis an die Hüften versank, ehe seine Füße auf Widerstand stießen. Jeder Schritt schien doppelt soviel Kraft wie der vorhergehende zu kosten.
Sie waren nicht länger als eine halbe Stunde gelaufen, aber als sie schließlich haltmachten, da war nicht nur Kim mit seinen Kräften am Ende. Die Zwerge schleppten sich nur noch mühsam vorwärts, und mehr als einmal hatten die Freunde die kleinen Gestalten an Haaren oder Armen aus dem Morast ziehen müssen, in dem sie zu ertrinken drohten. Auch Priwinn wankte mehr, als er ging, und selbst Gorgs Atem hatte sich beschleunigt. Schließlich erreichten sie eine Art Insel1 inmitten des Schlammozeans, der das verschlungen hatte, was einst die Eisigen Einöden gewesen waren. Es war ein kleiner, fast kreisrunder Fleck halbwegs trockenen Bodens, auf dem sie anhalten und sich ausruhen konnten. Nur für einen Moment, hatten sie gedacht, aber es wurde fast eine halbe Stunde, und sie alle, die Gefangenen eingeschlossen, lagen völlig erschöpft da, während Gorg Wache hielt.
Das erste, was Kim sah, als er nach einer Welle die müden Augen öffnete und sich sein Blick etwas klärte, war Jarrns Gesicht. Der Zwerg hockte mit angezogenen Knien dich neben ihm und blickte mit einer Mischung aus Zorn und Verachtung auf Kim herab. Kim seinerseits musterte den anderen sehr aufmerksam; vielleicht zum erstenmal überhaupt. Das kleine Gesicht starrte vor Schmutz und war nichts weniger als häßlich. Kim versuchte, darin irgend etwas Vertrautes, eine Spur von Freundlichkeit zu entdecken. Es gelang ihm nicht. Zwar wußte er, daß das eigentlich unmöglich war - aber er hatte das Gefühl, daß dieses Gesicht nur aus Bosheit zusammengesetzt war. In den dunklen Augen des winzigen Männleins war nicht die geringste Wärme, nur Gier und ein Haß, der gar nicht zielgerichtet wirkte, sondern allem und jedem zu gelten schien; einschließlich ihm selbst.
»Na«, schnarrte Jarrn, nachdem sie eine geraume Weile schweigend aufeinander gestarrt hatten. »Zufrieden?«
»Womit?« Kim war irritiert. Prinz Priwinn, der zusammengerollt neben ihm lag und den rechten Arm als Kissenersatz unter den Kopf geschoben hatte, öffnete matt ein Auge und blickte Kim fragend an, sagte aber nichts.
»Mit der Situation, in die du uns gebracht hast, du verdammter Narr!« keifte Jarrn. »Wir werden alle sterben, und das nur deiner bodenlosen Dummheit wegen.«
»Wie bitte?« murmelte Kim, und Priwinn hob jetzt den Kopf und starrte den Zwerg an.
»Wir wären alle nicht mehr hier, wenn du dich gleich ergeben hättest!« fuhr Jarrn fort.
Angesichts dieser bodenlosen Unverschämtheit blieb selbst Kim der Atem weg. Aber er spürte, daß Jarrn diese Worte ernst meinte. Der Zwerg gab ihm tatsächlich die Schuld an ihrer verzwickten Lage.
»Dieser blöde Rangarig wird uns alle umbringen«, schimpfte Jarrn weiter. »Ich weiß gar nicht, wozu wir davonlaufen. Wir können genausogut hierbleiben und warten, bis er uns holt.«
»So schlimm wird es wohl nicht kommen«, sagte da Gorg in erstaunlich ruhigem Ton.
Der Zwerg legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zu ihm hoch. »Ach? Und wieso nicht?«
»Rangarig ist schwer verletzt. Er wird eine ganze Weile brauchen, bis er wieder zu Kräften kommt. Zeit genug, um uns etwas auszudenken.« Gorg deutete mit einer Kopfbewegung auf den Kater, der es sich auf seinem Schoß bequem gemacht hatte und abwechselnd das rechte und das linke Auge schloß. Mit dem jeweils offenen betrachtete er mißtrauisch das halbe Dutzend aneinandergebundener Zwerge. »Sheera hat Siedler gewittert, kurz bevor ihr über uns hergefallen seid. Mit ein bißchen Glück finden wir sie.«
»Mit ein bißchen Pech, meinst du«, verbesserte ihn der Zwerg. Er machte ein unanständiges Geräusch. »Ja, ja. Sie sind ganz in der Nähe, da hat das Katzenvieh recht. Aber ich würde euch nicht unbedingt raten, ihnen über den Weg zu laufen.«
»Wieso nicht?« fragte Priwinn.
»Es sind Flußleute«, antwortete Jarrn. »Ein räuberisches Pack. Niemand ist vor ihnen sicher. Auch ihr nicht, glaubt mir.«
»Flußleute?« Kim dachte an das unheimliche Buckelschiff, das sie gesehen hatten. »Wenn sie etwas gegen euch Zwerge haben, heißt das nicht, daß sie auch etwas gegen uns haben, Knirps.«
»Mein Wort darauf - das haben sie«, gab Jarrn zurück. »Er hat recht«, sagte Priwinn. »Besser, wir machen einen Bogen um die Flußleute.«
»Ach ja?« Jarrn zog eine Grimasse. »Und wohin willst du gehen, Grasfresser?«
Priwinns Blick machte deutlich, daß sie sich über das Wort Grasfresser zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal eingehender unterhalten würden. Aber er überging die Beleidigung und deutete nach Norden. »Dorthin, wo wir die ganze Zeit hinwollten«, sagte er. »Wir müssen Burg Weltende finden.«
Kim war nicht sicher - aber für einen Moment glaubte er einen bodenlosen Schrecken in den Augen des Zwerges zu sehen. »Burg ... Weltende?« krächzte Jarm. »Die Festung der Weltenwächter?«
»So ist es«, sagte Priwinn.
Jarrn schüttelte verächtlich den Kopf. Er musterte Kim und Priwinn abwechselnd aus tückisch funkelnden Augen und zuckte schließlich mit den Schultern. Umständlich stand er auf und blinzelte einen Moment aus zusammengekniffenen Augen in die Runde. »Gehen wir«, sagte er. »Der Weg ist noch weit.«
Und das war er in der Tat. Den ganzen Tag über schleppten sie sich durch den klebrigen Schlamm, nur sehr selten auf eine trockene Insel stoßend, auf der sie etwas rasten konnten.
Kaum jemand sprach, denn sie alle brauchten jedes bißchen Kraft, um die immer schwerer werdende Aufgabe zu bewältigen, einen Fuß aus dem klebrigen Sumpf zu ziehen und vor den anderen zu setzen.
Als es Abend wurde, riß sich einer der Zwerge los und unternahm einen Fluchtversuch. Gorg machte sich nicht einmal die Mühe, ihn zu verfolgen, sondern gab nur Sheera einen Wink, und nachdem der Zwerg zurück war und sich mit weiteren Streifen aus seinem Cape die zahllosen Kratzer und Schrammen verbunden hatte, aus denen er blutete, versuchte keiner von ihnen mehr zu fliehen.
Mit dem letzten Licht des Tages entdeckten Bröckchens scharfe Augen eine Erhebung, die im Süden vor ihnen aus dem Morast wuchs. Sie gingen darauf zu und erreichten sie, als die Sonne gerade noch als schmaler roter Streifen am Horizont zu erkennen war. Aber was sie in dem letzten, rot-grauen Licht sahen, das war... sehr sonderbar. Unheimlich. Vor ihnen lag eine Insel aus Lehm inmitten des Schlamm-meeres. Sie war größer als die bisherigen, und in ihrer Mitte erhob sich ein gut drei Meter hoher Buckel aus rostigem Eisen, in dessen Oberfläche sich zahllose winzige Löcher befanden. Die Luft roch eigenartig, und wenn man lauschte, konnte man ein dunkles Summen und Brummen hören, das aus dem Inneren des Buckels zu dringen schien.