Выбрать главу

Und doch hatte das Unheil, das diese Weltengegend befallen hatte, seine Hand auch schon nach dieser Burg ausgestreckt. Die ungeheure Masse von Eis schmolz zwar nicht so rasch wie die Schollen, die das Land und die Flüsse bedeckt hatten, und vielleicht würde Burg Weltende noch ein paar Jahre überstehen - als letzte Erinnerung an das, was dieser Teil Märchenmonds einmal gewesen war. Aber am Ende würde auch sie einfach fort sein. Kim fühlte eine Trauer, die so tief war, daß sie körperlich schmerzte. Sie hatten alles riskiert, um hierher zu kommen. Einer ihrer Freunde hatte sein Leben geopfert, um dieses Ziel zu erreichen, und vielleicht würden auch sie sterben, ehe sie den Regenbogenkönig fanden. Und das alles nur um dieser letzten, verzweifelten Hoffnung willen, der winzigen Möglichkeit, daß die Hüter der Unendlichkeit noch einmal in das Schicksal Märchenmonds eingreifen und alles zum Guten wenden würden.

Und nun war alles vergeblich gewesen.

»Wo ... sind die Eisriesen?« flüsterte Priwinn.

»Fort«, murmelte Gorg. Die Stimme des Riesen zitterte, und als Kim zu ihm aufschaute, da sah er ein so tiefes Entsetzen auf seinen Zügen, wie er es nie zuvor im Gesicht des Freundes erblickt hatte. »Sie sind ... alle fort. Sie können hier nicht mehr leben. Sie ... sie brauchen die Kälte und das Eis wie wir anderen die Wärme und die Sonne. Vielleicht... vielleicht sind sie tot.«

Und plötzlich fuhr er herum, packte den erstbesten Zwerg, dessen er habhaft werden konnte, und riß ihn in die Höhe. »Vielleicht sind sie tot!« schrie er noch einmal. »Ihr habt sie umgebracht mit euren verdammten Maschinen!« Der Zwerg stieß einen quietschenden Schrei aus, begann mit den Beinen zu strampeln und erstarrte, als Gorg eine Faust vor seinem Gesicht ballte, die größer als sein ganzer Kopf war.

»Ihr habt sie umgebracht!« brüllte Gorg, und seine Stimme zitterte heftig.

»Gorg!« Priwinns Ausruf klang energisch und doch gleichzeitig sanft und beruhigend. Mit einem raschen Schritt trat er auf den Riesen zu, hob die Arme und versuchte, dessen zur Faust geballte Rechte herunterzudrücken. Priwinns Kraft reichte dazu nicht aus, aber Gorg senkte von sich aus die Hand, und gleich darauf ließ er auch den Zwerg vorsichtig wieder zu Boden.

»Es ist nicht gesagt, daß sie tot sind«, beruhigte ihn Priwinn. »Vielleicht sind sie einfach nur fortgegangen. Du hast es selbst vorhin gesagt.« Er lächelte traurig und streckte die Hand aus, als wollte er den Riesen tröstend an der Wange berühren, aber er reichte nicht hin. Gorg starrte aus leeren, vor Schmerz verdunkelten Augen an ihm vorbei, dann wandte er sich mit einem Ruck ab und stampfte ein paar Meter davon. Kim wollte ihm nachgehen, aber der Prinz hielt ihn am Arm zurück und schüttelte wortlos den Kopf. Da verstand Kim, daß sein großer Freund in seinem Schmerz allein sein wollte.

Auch Kim kämpfte mit den Tränen. Es war einfach nicht gerecht, daß sie alle Gefahren und Anstrengungen überstanden hatten und daß sie trotz ihrer Verfolger und aller Hindernisse, die die Natur und ein feindliches Schicksal ihnen in den Weg gelegt hatten, so weit gekommen waren - nur um zu begreifen, daß alles vergeblich war. Da glaubte Kim plötzlich noch einmal Rangarigs Stimme zu hören, jene Worte, die er an ihrem letzten gemeinsamen Morgen gesprochen hatte: Wer hat jemals behauptet, daß das Leben fair ist?

»Kommt«, sagte Priwinn nach einer Weile. »Wir wollen uns ein bißchen umsehen. Vielleicht ist ja noch nicht alles verloren.«

Indes, seine Worte drückten nur aus, was er sich wünschte, nicht, was er dachte, das wußten Gorg und Kim so gut wie er. Aber trotzdem widersprachen seine Gefährten nicht, sondern lösten sich nach kurzem Zögern von ihren Plätzen und folgten dem Steppenprinz ins Innere der Eisfestung.

Der Weg durch den Wall aus strahlend weißer Kälte kam Kim wie ein Schritt in die Vergangenheit vor. Von außen betrachtet, mochte Burg Weltende eine sterbende Festung sein, aber innen schien sie völlig unversehrt. Eiseskälte schlug ihnen entgegen und ließ ihren Atem zu Dampf werden, als sie über den großen Innenhof schritten und sich dem Thronsaal näherten. Alles war unverändert. Hier drinnen schien selbst die Zeit gefroren zu sein, und für einen Moment kam es Kim völlig absurd vor, daß jemand diesem Bollwerk aus klirrend erstarrter Ewigkeit etwas anhaben könnte. Jeden Moment rechnete er damit, daß sich eine Tür öffnete und einer der gewaltigen weißen Weltenwächter hervortrat, um sie zu fragen, was sie hier suchten.

Aber nichts dergleichen geschah. Die Eisfestung war vollkommen verlassen. Sie durchquerten Räume und Hallen und Gänge, gingen gewaltige Treppen aus schimmerndem Eis hinauf und liefen über Balustraden aus glitzerndem, weißem Schnee. Schließlich gelangten sie in den Thronsaal.

Auch er war verwaist. Die lange Tafel, an der die Eisriesen einst gesessen hatten, stand unversehrt da, und Kim erinnerte sich sogar genau des Platzes, an dem er damals gestanden hatte, direkt vor dem riesigen Thron und neben Baron Kart, dem Heerführer der schwarzen Ritter, der ihn bis hierher ans Ende der Welt verfolgt hatte.

Kims Blick fiel auf die schmale Tür hinter dem Thron, und sein Herz begann schneller zu klopfen, als er die lange Tafel aus blankem Eis umrundete und darauf zutrat. Wieder öffnete sie sich wie von Geisterhand bewegt, kurz bevor er sie erreichte. Aber als er dieses Mal hindurchtrat, da lag dahinter nicht die endlose eisglatte Ebene, auf der Kim und der schwarze Baron ihren letzten Kampf ausgetragen hatten. Hier war nichts als eine kleine, leere Kammer. Und obwohl Kim eigentlich hätte wissen müssen, was ihn erwarten würde, schloß er mit einem tiefen, unendlich enttäuschten Seufzer die Augen und ließ sich gegen die kalte Wand sinken.

Es hatte nicht mehr da sein können. Die Eisreisen waren die Wächter der Welten; sie allein entschieden, wer den Weg über das Nichts gehen durfte und wer nicht. Gab es sie nicht mehr, dann gab es auch den Weg in die Ewigkeit nicht mehr. Kim hatte das gewußt. Und doch - tief in seinem Herzen war noch ein winziger, gegen jede Vernunft gefeiter Hoffnungsschimmer gewesen. Als er jetzt erlosch, da hatte Kim das Gefühl, daß mit ihm auch ein Stück von ihm selbst starb. Er stand lange mit geschlossenen Augen so gegen die Wand gelehnt da, bis die eisige Kälte durch Kims Kleider kroch und sein Rücken zu schmerzen begann.

Als er die Augen öffnete, sah er sich Gorg gegenüber. Der Riese stand mit weit vorgebeugten Schultern da, denn der Raum war viel zu klein, als daß er sich hätte aufrichten können, und sein Atem zauberte einen Vorhang aus grauem Dampf vor sein breites Gesicht. Trotzdem konnte Kim die Spuren getrockneter Tränen auf Gorgs Wangen erkennen, und mit einem Male kam ihm sein eigener Schmerz klein und lächerlich vor, verglichen mit dem, was der Freund empfand.

»Du hast sie gekannt? Es ist sehr schwer für dich, nicht wahr?« fragte Kim.

Gorg nickte. Er weinte nicht mehr. Sein Gesicht war wie Stein, aber in seinen Augen war etwas Neues, etwas, das nicht mehr so gutmütig wie früher war, ein ganz kleines bißchen so wie in den Augen des Drachen, kurz bevor Rangarig zur Bestie geworden war. Und das machte ihm angst.

»Sie und ich gehörten ... zum selben Volk«, flüsterte Gorg stockend. Er lächelte schmerzlich. »Doch was wißt ihr schon davon.«

»Sie leben gewiß noch«, sagte Kim, wider besseres Wissen und nur, um überhaupt etwas zu sagen. »Sie sind wohl geflohen.«

Gorg schüttelte den mächtigen Kopf, aber die Bewegung war nur angedeutet, so daß Kim sie mehr ahnte als wirklich sah. »Sie sind tot«, sagte der Riese leise. »Ich spüre es.« Kim hätte gern noch versucht, Gorg Trost zuzusprechen, aber er fand keine Worte mehr. So ging er schweigend an ihm vorbei und trat wieder in den Thronsaal hinaus.

Dort stand der Steppenprinz mit steinernem Gesicht neben der Tür und starrte ins Leere, während sich die Zwerge, respektlos wie sie nun einmal waren, auf den kunstvoll geschnitzten Eisstühlen herumlümmelten und lautstark miteinander debattierten, in einer Sprache, die Kim nicht verstand. Bröckchen und Sheera hockten nebeneinander mitten auf dem Tisch und beäugten das lärmende Zwergenvolk mißtrauisch.