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Zu seiner Überraschung lächelte Jarrn plötzlich. »Du fängst an, mir zu gefallen, Bursche«, sagte er kichernd. »Also gut - du hast mein Wort. Wir schließen Frieden, bis wir den großen Baum erreichen. Dann geht jeder seiner Wege.«

Die Höhle, von der Jarrn gesprochen hatte, lag tatsächlich nicht sehr weit von Burg Weltende entfernt. Sie gingen zuerst den Weg zurück, den sie gekommen waren, dann bogen sie nach Westen ab und bewegten sich eine Weile auf einem scheinbar vollkommen willkürlichen Kurs hin und her. Kim begann bereits zu argwöhnen, daß sich die Zwerge einen grausamen Scherz mit ihnen erlaubten oder sie absichtlich in die Irre führten, um ihnen in einem günstigen Moment zu entwischen. Aber plötzlich blieb Jarrn stehen und deutete auf ein kreisrundes Loch im Boden.

Kim trat näher und sah den gut zwei Meter durchmessenden Schacht verblüfft an. Er hätte seine rechte Hand darauf verwettet, daß er vor einer halben Minute noch nicht dagewesen war. Schaudernd beugte er sich vor, soweit er es wagte, und blickte in die Tiefe. Da die Sonne bereits niedrig stand, reichte ihr Licht nur noch ein kleines Stück in den Schacht hinab; alles, was tiefer als drei oder vier Meter lag, war hinter einer schrägen Wand aus undurchdringlicher Schwärze verborgen. Aber man spürte, daß dieser Schacht sehr tief war.

Hastig richtete sich Kim wieder auf, trat einen Schritt von seinem Rand zurück und sah zuerst Priwinn und dann den Riesen zweifelnd an. Er war mit einemmal gar nicht mehr so sicher, ob sie gut daran getan hatten, den Vorschlag der Zwerge anzunehmen.

»Worauf wartet ihr?« fragte Jarrn ungeduldig. »Das erste Stück ist nicht gefährlich.«

Priwinn gab sich einen sichtlichen Ruck und wollte den Anfang machen, aber Gorg hielt ihn am Arm zurück. »Laßt mich vorausgehen«, sagte er. »Wer weiß, was uns dort unten erwartet. Außerdem - wenn einer von euch stürzt, kann ich ihn wohl auffangen. Umgekehrt würde ich euch mit in die Tiefe reißen.«

Niemand widersprach, und so ließ sich Gorg vorsichtig am Rande des schwarzen Schachtes nieder, streckte beide Anne weit aus und suchte sicheren Halt, ehe er langsam in die Tiefe stieg.

Kim sah ihm mit einem Gefühl wachsender Furcht dabei zu. Als der Riese den noch hellen Bereich hinter sich ließ, geschah etwas Unheimliches - Gorgs Beine und sein Körper verschwanden nicht langsam im Schatten, es sah vielmehr aus, als tauche er in die Oberfläche eines pechschwarzen, reglos daliegenden Sees hinab. Nach einigen Augenblicken waren nur noch Kopf und Schultern des Riesen zu sehen, dann nur noch eine Hand, und schließlich war er ganz verschwunden.

»Jetzt ich«, sagte Jarrn und drängelte sich vor, als Kim als zweiter in die Tiefe steigen wollte. »Dieser Dummkopf bringt es fertig und verläuft sich dort unten.«

Kim verbiß sich die wütende Antwort, die ihm auf der Zunge lag, und ein Blick auf Priwinn zeigte ihm, daß es dem Steppenprinzen ebenso erging. Sie hatten zwar einen Waffenstillstand mit den Zwergen geschlossen, aber das bedeutete nicht, daß sie sich alles erlauben durften. Ganz und gar nicht.

Nacheinander stiegen sie in die Tiefe, und was Kim vorhin beobachtet hatte, das erlebte er nun selbst: Als er langsam den Schacht hinabstieg und aus dem Sonnenlicht herauskam, da hatte er tatsächlich das Gefühl, in etwas Ungreifbares einzudringen; es war nicht nur so, daß hier unten einfach kein Licht war. An seiner Stelle schien es etwas anderes zu geben, etwas Unheimliches, Düsteres und Eisiges, das nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele erschauern ließ.

Der Abstieg dauerte sehr lange. Kim war ein guter Kletterer, aber er schätzte, daß mehr als eine Viertelstunde verging; bis er unter sich wieder die Stimmen der anderen hörte und schemenhafte Bewegungen wahrnahm. Und mehr als einmal drohten ihn die Kräfte zu verlassen. Als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, zitterten seine Hände und Knie so heftig, daß er sich für einen Moment an die Wand lehnen und ausruhen mußte.

Mit klopfendem Herzen sah er sich um. Der Kamin, durch den sie herabgestiegen waren, endete in einem runden, mannshohen Stollen, dessen Wände so spiegelglatt waren, als wären sie aus dem Fels herausgeschmolzen statt gemeißelt worden. Es war nicht so vollständig dunkel, wie es von oben ausgesehen hatte. Ein trüber, grauer Schimmer hing wie leuchtender Nebel in der Luft und ließ die Umrisse der anderen als gespenstische Schatten vor ihm erscheinen. Gorg hatte sich auf Hände und Knie heruntergelassen, da der Gang viel zu niedrig für ihn war, um auch nur gebückt stehen zu können. Priwinn stand neben ihm, während sich Jarrn und die anderen Zwerge auf der anderen Seite des Stollens zusammengedrängt hatten. In dem grauen Nebellicht hier unten wirkten sie noch unzugänglicher als sonst.

»Wohin jetzt?« fragte Kim, nachdem er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, und seine Stimme hallte mehrmals unheimlich und verzerrt von den spiegelglatten Wänden wider. Ein kleiner Schatten fuhr erschrocken zusammen und begann mit der Hand zu wedeln.

Es war Jarm. »Nicht so laut!« zischte er. »Willst du, daß sie uns hören?«

»Sagtest du nicht, dieser Teil des Ganges wäre sicher?« erkundigte sich Priwinn.

Jarrn machte eine Bewegung, die in der Dunkelheit nicht genau zu erkennen war. »Das ist er auch - üblicherweise«, flüsterte er hastig. »Aber man weiß ja nie, nicht wahr?« Er deutete mit der Hand hinter sich. »Wir müssen jedenfalls dort entlang. Besser, ich gehe vor.«

Niemand widersprach, und so übernahmen die Zwerge die Spitze ihrer kleinen Gruppe. Je weiter sie durch den unterirdischen Tunnel wanderten, desto mehr gewöhnten sich Kims Augen an das blasse Licht. Er konnte immer noch nicht weiter als fünf oder allerhöchstens sechs Schritte sehen, aber er erkannte jetzt wenigstens mehr von seiner unmittelbaren Umgebung. Der Stollen war nicht auf natürlichem Wege entstanden, das sah er jetzt deutlich. Sollten die Zwerge die Wahrheit gesagt haben, und dieser Gang führte tatsächlich bis zum großen Baum ...? Nein, Kims Phantasie reichte einfach nicht aus, sich vorzustellen, das jemand in der Lage war, ein solches Höhlensystem künstlich zu erschaffen. Und so war es auch nicht; wenigstens nicht ganz. Kims Zeitgefühl geriet völlig durcheinander, als sie den Zwergen durch die von unheimlichem Grau erfüllten unterirdischen Gänge folgten. Es mußten Stunden sein, während derer sie durch runde, wie in den Fels gebrannte Tunnel, durch gewaltige, natürlich entstandene Höhlen, über zyklopische Schutthalden und vorbei an jäh aufklaffenden, bodenlosen Abgründen gingen.

Manchmal mußten sie über Wände klettern, die selbst Kims Geschicklichkeit beinahe überforderten. Mehrmals hätten sie es ohne die Hilfe des Riesen gar nicht geschafft, der sich mit seinen gewaltigen Körperkräften an den manchmal lotrechten Wänden hinaufzog wie eine zu groß geratene Fliege und dabei immer zwei oder drei von ihnen auf den Schultern mitschleppte. Kim wurde schon bald klar, warum die Zwerge sich auf diesen Handel eingelassen hatten: Obwohl sie selbst einen großen Teil dieses tief in die Erde gegrabenen Labyrinths geschaffen hatten, war der Weg doch an vielen Stellen für sie unpassierbar. Hier und da klafften Löcher und Abgründe im Boden, die sie zu lebensgefährlichen Kletterpartien zwangen, und einmal überwanden sie eine dieser tückischen Schluchten nur, indem Gorg die Zwerge kurzerhand packte und in hohem Bogen auf die andere Seite warf.

Über ihnen mußte die Sonne längst untergegangen sein, aber sie wanderten immer noch dahin. Jeglichen Vorschlag, eine Rast einzulegen, lehnten die Zwerge ab und drängten nervös zum Weitergehen. Und alle anderen hatten das sichere Gefühl, daß es besser war, auf sie zu hören. Keiner hatte es ausgesprochen oder auch nur eine entsprechende Bemerkung gemacht, aber Kim ahnte, daß nicht Felsschluchten und labyrinthische Tunnel hier unten die eigentlichen Gefahren waren.