Kim, Priwinn und die beiden Tiere bildeten den Abschluß. Kims Herz klopfte zum Zerspringen, als er sich durch die Tür warf und stehenblieb, und für eine halbe Minute rechnete er ernsthaft damit, hinter sich einen zornigen Aufschrei oder das Trappeln zahlreicher Füße zu hören. Doch nichts von alledem geschah. Sie hatten es geschafft. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Furcht sah er sich um. Das Innere des Gebäudes bestand aus einem einzigen, großen Raum, der völlig leer war, bis auf eine Anzahl in die Wände eingelassener, eiserner Ringe, an denen kurze Ketten hingen. Kim zog es vor, nicht über den Zweck dieser Ketten nachzudenken.
Gorg war mittlerweile vor einer schweren, hölzernen Klappe in der Mitte des Raumes niedergekniet und hatte sie mit einer Hand angehoben. Flackerndes rotes Licht drang von unten herauf, und als Kim hinter den Riesen trat, erblickte er die obersten Stufen einer in den Fels gehauenen Treppe, die sich in engen Windungen tiefer in die Erde hineindrehte. Gorg öffnete die Klappe vollends, ließ sie lautlos zu Boden gleiten und war der erste, der auf Zehenspitzen die Treppe hinunterzu schleichen begann, gefolgt von den Zwergen. Priwinn und Kim bildeten wieder den Abschluß. Die Treppe führte weit, sehr weit in die Tiefe und endete in einem kreisrunden Raum, von dem ein halbes Dutzend Türen abzweigten. Gorg legte das Ohr an eine dieser Türen, lauschte einen Moment und versuchte sie dann zu öffnen. Sie war verschlossen. Die Riese warf Priwinn einen fragenden Blick zu, ob er sie aufbrechen sollte, aber der Steppenprinz schüttelte nur den Kopf und deutete auf eine andere Tür. Gorg ging hin und lauschte auch hier. Diesmal hatte er Glück: Als er die roh aus Eisen geschmiedete Klinke herunterdrückte, schwang die Tür quietschend nach innen und gab den Blick auf einen scheinbar endlos langen, von flackerndem, düster-rotem Licht erfüllten Gang frei.
In die Wände dieses Ganges waren zahlreiche, vielleicht fünf mal fünf Schritte messende Kammern hineingemeißelt worden, die mit Gittern aus schweren, rostigen Eisenstäben verschlossen waren. Faulendes Stroh lag auf dem Boden, und in der Luft lag ein Gestank, der Kim im wahrsten Sinn des Wortes den Atem verschlug. Mit klopfendem Herzen bewegte er sich hinter Gorg in den Gang hinein. Sie gingen bis zu seinem Ende, und sie sahen in jede einzelne der gut vier oder fünf Dutzend Käfige, aber sie waren alle leer. Trotzdem war der Zweck eindeutig: Es war ein Kerker, der Zwerg hatte recht gehabt. Aber wo waren die Gefangenen? »Bist du sicher, daß du dich nicht verhört hast?« fragte Priwinn, als sie auch den zweiten, gleichartigen Gang untersuchten und noch immer niemanden gefunden hatten. »Ja«, antwortete Kim. »Und ich sah, daß sie ihn in dieses Haus gebracht haben. Er muß hier irgendwo sein.«
Sie untersuchten auch die drei übrigen Gänge, deren Türen nicht verschlossen waren, ohne auf mehr als leere Zellen zu stoßen. Als sie den letzten dieser Tunnel verlassen wollten, blieb Gorg plötzlich stehen, machte eine hastige Bewegung und schloß mit der anderen Hand die Tür bis auf einen schmalen Spalt.
Keine Sekunde zu früh! Draußen war das Klirren eines Schlüssels zu hören, dann wurde eine Tür geöffnet, und gleich darauf traten zwei hochgewachsene Gestalten in braunem Leder und Fell heraus. Als einer von ihnen an der nur angelehnten Tür vorüberging, erkannte Kim sein Gesicht. Es war einer der beiden Männer, die den Baumjungen hierhergebracht hatten.
Sie warteten, bis die Schritte der beiden auf der Treppe oben verklungen waren, ehe sie es wagten, ihr Versteck zu verlassen.
»Das war knapp«, meinte Priwinn. »Einen Moment später und ...«
»Ihr seid völlig verrückt«, maulte Jarrn. »Nichts wie weg hier, ehe sie uns entdecken. Ich habe keine Lust, diese Käfige von innen kennenzulernen.«
Kim schüttelte den Kopf und deutete auf die letzte verschlossene Tür. »Erst sehen wir nach, was dahinter ist«, sagte er. »Die beiden sind dort herausgekommen. Allein.« Der Zwerg plusterte sich auf, um zu protestieren, aber Gorg war schon an die Tür herangetreten, und diesmal machte er nicht viel Federlesen. Mit einer einzigen kraftvollen Bewegung riß er die Tür kurzerhand aus Schloß und Angeln und stellte sie neben der Öffnung gegen die Wand. Dahinter lag ein weiterer, von düsterem Fackellicht erhellter Gang. Auch hier waren Dutzende von Zellen in die Wände gemeißelt - aber diese waren nicht leer! Gleich in der ersten Zelle erkannte Kim den blauen Baumjungen, und in der Kammer auf der gegenüberliegenden Seite hockte ein blasses, etwa zwölfjähriges Mädchen auf dem nassen Stroh und blickte ihnen aus angstvoll geweiteten Augen entgegen.
Und diese beiden waren nicht die einzigen. Kim entdeckte noch acht oder neun Gefangene - und es waren allesamt Kinder! Der älteste von ihnen mochte in Kims Alter sein, aber die meisten waren jünger, höchstens zehn Jahre alt. Fassungslos lief er von Zelle zu Zelle und rüttelte an den verschlossenen Gittern. Schließlich kehrte er zu dem blassen Mädchen zurück. Auf einen Wink Priwinns hin packte Gorg mit seinen gewaltigen Händen die rostigen Eisenstäbe und bog sie einfach auseinander, so daß sich Kim und der Steppenprinz hindurchquetschen konnten.
Das Mädchen blickte ihnen aus Augen entgegen, die dunkel vor Furcht waren, und als Priwinn die Hand nach ihr ausstreckte, da wich sie erschrocken zurück und drängte sich in die hinterste Ecke der kleinen Kammer.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Priwinn. »Wir sind hier, um dir zu helfen.«
Der Blick des Kindes wanderte unsicher zwischen ihnen hin und her, dann starrte es den Riesen an. Aber die Angst in seinen Augen blieb.
»Wir gehören nicht zu den Flußleuten«, sprach Kim eindringlich. »Wir werden euch befreien.«
Die Kleine antwortete immer noch nicht, sondern starrte ihn nur weiter an, und auf ihrem Gesicht war deutlich der Kampf abzulesen, der sich hinter ihrer Stirn abspielte. Sie hatte Kims Worte verstanden, aber sie glaubte ihm wohl nicht.
Priwinn wandte sich an Gorg. »Hol die anderen heraus«, sagte er. »Mach schnell.«
Dann drehte er sich wieder zu dem Mädchen herum und wiederholte: »Du mußt keine Angst haben. Wir sind Freunde.«
»Ihr gehört... nicht zu den Piraten?« fragte ihn das Mädchen zweifelnd.
»Bestimmt nicht«, versicherte Kim an Priwinns Stelle. »Wir sind hier, um euch zu helfen. Wo sind die anderen?« Das Mädchen blickte ihn verwirrt an. »Andere? Was für andere?«
Gorg hatte mittlerweile sämtliche Zellen aufgebrochen, und der Gang begann sich mit Kindern zu füllen; gut zwei Dutzend Jungen und Mädchen aus den verschiedensten Völkern Märchenmonds. Einige von ihnen befanden sich in einem erbärmlichen Zustand. Ihre Gesichter waren schmutzig und eingefallen, ihre Kleider hingen in Fetzen, und der Schrecken hatte tiefe Spuren in ihren Augen hinterlassen. Der Anblick gab Kim einen tiefen, schmerzhaften Stich.
»Warum tun sie das?« flüsterte er.
Priwinn lachte bitter. »Hast du vergessen, was du mir vorhin erzählt hast: Niemand gibt etwas für tote Kinder? Die Flußleute verkaufen sie! Wohl an Familien, die ihre Kinder verloren haben und damit nicht fertig werden. Leute wie Brobing und seine Frau. Du hast es doch selbst erlebt.« Kim schauderte bei der Erinnerung an den Schmerz, den er in den Augen der Bauersfrau gesehen hatte. Dann schüttelte er heftig den Kopf. »Das ist unmöglich«, sagte er. »Sie würde nie -«
»Einer anderen Mutter ihr Kind stehlen, um ihr eigenes zu ersetzen?« Priwinn seufzte traurig. »Doch, das würde sie, Kim«, sagte er. »Menschen tun furchtbare Dinge, wenn sie ihren Schmerz nicht mehr ertragen. Und es sind diese verdammten Flußpiraten, die ihren Schmerz ausnutzen, um sich daran zu bereichern. Sie verkaufen sie überall im Lande.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Kim.
»Der Zwerg Jarrn hat es mir gesagt. Und in diesem Fall glaube ich ihm.«