Kim ließ seinen Blick ein letztes Mal durch die Höhle schweifen, raffte all seinen Mut zusammen und gab Jarrn mit einem Zeichen zu verstehen, daß er sich an ihm festhalten sollte. Die dürren Hände des Zwerges krallten sich in sein Hemd und seine Schultern, und Kim begann mit zusammengebissenen Zähnen den Abstieg. Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen, obwohl einige der Flußleute auf ihrem Weg nur wenige Meter unter ihnen vorbeiliefen. Nach wenigen Augenblicken hatten sie wieder festen Boden erreicht und duckten sich keuchend hinter einen Felsbrocken.
»Das war nicht schlecht«, lobte Jarrn. »Zumindest für einen Bengel wie dich.«
Kim blickte ihn böse an. »Wenn wir hier heraus sind«, versprach er, »dann bring ich dir Manieren bei, kleiner Mann.« Jarrn streckte ihm die Zunge heraus, grinste und wurde übergangslos wieder ernst. »Und wie kommen wir dort hinüber, ohne entdeckt zu werden?« Er deutete auf den von rotem Licht erhellten Höhleneingang in der Seitenwand des Felsendomes.
Kims Blick blieb einen Moment daran haften und tastete dann wieder durch die Höhle. Obwohl die meisten Flußleute den Felsendom verlassen hatten, hielten sich noch genug von ihnen am Seeufer auf; entschieden zu viele für Kims Geschmack. »Die Frage ist vielmehr: Wie kommen wir nachher wieder heraus?« sagte er, »zusammen mit deinen Freunden. - Wie viele Zwerge sind denn gefangen?«
»Wie soll ich das wissen?« gab Jarrn unfreundlich zurück. »Vielleicht nur eine Handvoll, vielleicht gar Hunderte.«
Kim erschrak. »Hunderte? Wir können unmöglich Hunderte von Gefangenen befreien!«
»Ach nein?« Jarrn blitzte ihn böse an. »Aber Hunderte von deinen Leuten hätten wir schon befreien können, wie?« Plötzlich fuhr er erschrocken zusammen, und eine halbe Sekunde später gewahrte auch Kim hinter sich eine Bewegung und fuhr herum.
Doch es war kein Flußmann. Kim atmete auf. Vor dem grauen Fels zeichnete sich ein winziger, stacheliger Umriß ab, und kurz darauf ließ sich eine piepsende Stimme vernehmen: »Wenn ihr beide noch ein bißchen lauter streitet, dann könnt ihr genausogut auch aufstehen und den Flußleuten Hallo sagen. Man hört euch noch auf der anderen Seite des Gebirges.«
»Bröckchen!« rief Kim erleichtert. Dann runzelte er die Stirn. »Was tust du hier? Du solltest bei den anderen bleiben.«
»Keine Lust«, piepste Bröckchen und mit einem Blick in Jarrns Richtung fügte es hinzu: »Außerdem gefallen mir diese Zwerge nicht. Der da ist wenigstens allein, aber die anderen sind zu fünft.«
»Was ist mit Gorg?« fragte Kim hastig, ehe Jarrn auffahren konnte.
»Mach dir keine Sorgen um ihn. Er hat ein Dutzend Männer verdroschen und jetzt spielt er Fangen mit dem Rest.«
»Ich hoffe, er unterschätzt sie nicht«, meinte Kim ernst, aber Bröckchen machte eine Bewegung, die wohl Kopfschütteln sein sollte, und kicherte: »Kaum. Du solltest sehen, wie er sie durch die Gegend hetzt. Aber das heißt nicht, daß wir alle Zeit der Welt gepachtet haben. Habt ihr schon einen Plan?« Sein Blick wanderte von einem zum anderen, und dann seufzte es, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ach ja, ich sehe schon, ihr habt keinen. Warum frage ich überhaupt?«
»Wenn du so schlau bist«, schnappte Jarrn, »dann sag du uns doch, was wir tun sollen.«
»Pffff«, machte Bröckchen, richtete sich auf die Hinterpfoten auf und blinzelte aus seinen quellenden Augen zu der Höhle hinüber, in der die Zwerge gefangengehalten wurden. »Wartet hier«, sagte es. »Ich werde nachschauen, wie es dort aussieht.«
Lautlos und fast unsichtbar mit den Schatten verschmelzend, trippelte es aus dem Versteck hervor und huschte durch die Höhle, ohne daß es jemand sah. Und schon nach wenigen Augenblicken erreichte es das steinerne Rund und verschwand darin. Kim sah dem kleinen Freund besorgt nach. Erst nach einer geraumen Weile erschien Bröckchen wieder und huschte ebenso ungesehen wieder zu ihnen zurück.
»Nun?« fragte Jarrn ungeduldig.
»Deine Brüder sind da«, antwortete Bröckchen. »Zwei oder drei Dutzend, so genau konnte ich das nicht sehen.«
»Und wie viele Wächter?« erkundigte sich Kim.
»Keine. Nein, wirklich keine. Nur die Zwerge. Sie arbeiten wie die Besessenen.«
»Und niemand bewacht sie?« Kim konnte es nicht glauben. »Sie sind angekettet«, erklärte Bröckchen. »Selbst wenn sie wollten, könnten sie nicht fliehen.«
Kim sah sich unschlüssig um. Die Aufregung in der großen Höhle hatte sich ein wenig gelegt. Mehr als die Hälfte der Flußleute war verschwunden, und die zurückgebliebenen standen in kleinen Gruppen herum und diskutierten aufgeregt. Mit etwas Glück würden sie den Höhleneingang erreichen können, ohne gesehen zu werden.
»Also los«, murmelte Jarrn. »Früher oder später werden sie aufhören, diesen großen Tölpel zu jagen. Eine bessere Chance bekommen wir nicht mehr.«
Mit klopfendem Herzen trat Kim hinter seiner Deckung hervor und ging schnell, aber ohne zu rennen auf den Höhleneingang zu. Seine Kleidung unterschied sich nicht sehr von jener der Flußleute, und er war hochgewachsen für sein Alter. Auf einen flüchtigen Blick mochte er als einer der ihren durchgehen. Nur wenn er anfing zu laufen, dann würde er unweigerlich Aufmerksamkeit erregen.
Er starb fast vor Angst, ehe sie den Höhleneingang erreichten. Es kostete ihn große Kraft, nicht über die Schulter zu den Flußleuten zurückzublicken, die am Seeufer standen. Ein paarmal hörte er ein verdächtiges Geräusch oder sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln, die ihn davon zu überzeugen schien, daß ihr gewagtes Spiel nunmehr endgültig zu Ende war.
Doch sie hatten auch diesmal Glück. Völlig unbemerkt erreichten sie den angestrebten Höhleneingang und traten hindurch. Und wieder blieb Kim überrascht stehen und sah sich um.
Diese Höhle war sehr viel größer, als er vermutet hatte - regelrecht eine Halle mit niedriger Decke, die von zahllosen schwarzen Säulen aus Granit und erstarrter Lava getragen wurde. Dazwischen brannten unzählige flackernde Feuer, und wie Bröckchen gesagt hatte, standen an die drei Dutzend Zwerge an den Essen und Feuerstellen. Sie schmiedeten und hämmerten, was das Zeug hielt. Der Raum hallte wider vom Dröhnen der schweren Hämmer, Funken stoben auf, und die Hitze war fast unerträglich. Weißglühendes Eisen lief zischend in Formen aus Sand oder ließ Wasser verdampfen, wenn es zum Abkühlen hineingestoßen wurde. »Diese verdammten Hunde!« murmelte Jarrn. Seine Stimme zitterte. Und Kim konnte ihn verstehen, als er sich die Gefangenen etwas genauer besah.
Kein Zwerg, den er bisher zu Gesicht bekommen hatte, war besonders ansehnlich oder adrett gewesen oder hatte sonst einen anziehenden Eindruck gemacht. Aber das hier war eine Versammlung von Jammergestalten, es schien verwunderlich, daß sie überhaupt noch auf den Beinen standen und die schweren Schmiedehämmer schwingen konnten. Die meisten waren nackt bis auf einen schmuddeligen Lendenschurz und so ausgemergelt, daß sie wie Skelette wirkten, über die jemand zerschundene, schmutzstarrende Haut gezogen hatte. Ihre ausgezehrten kleinen Körper glänzten vor Schweiß. Um das rechte Fußgelenk jedes einzelnen schlang sich ein Ring aus schwarzem Eisen; eine lange Kette verband diese Ringe miteinander und verschwand irgendwo im Hintergrund der Halle in der Wand.
Kim riß sich mühsam zusammen und gab Jarrn einen Wink. »Schnell jetzt, ehe jemand kommt.«
Sie gingen rasch weiter. Bisher hatten sie unter dem Höhleneingang gestanden und waren von innen wohl höchstens als Schatten zu erkennen gewesen. Aber nun traten sie ins flackernde rote Licht der zahllosen Feuer hinein. Und als die Unglücklichen sie sahen, da ließen sie einer nach dem anderen ihre Werkzeuge sinken und starrten sie entgeistert an. Keiner von ihnen sprach ein Wort, und auf den Gesichtern, die Kim im Flackerlicht erkennen konnte, breitete sich eine Mischung aus Überraschung und Schrecken aus. Schließlich legte einer der Zwerge seinen Hammer aus der Hand und trat auf sie zu, soweit es die Kette an seinem Bein erlaubte. »Jarrn?« fragte er zweifelnd. »Bist du das?« Jarrn machte eine unwillige Handbewegung. »Keinen Laut jetzt«, sagte er. »Wo sind die Wachen?«