»Es gibt keine Wachen«, antwortete der Zwerg. »Die Flußleute kommen ab und zu, um neues Material zu bringen oder die Arbeit zu kontrollieren. Da ist nur der Aufseher, aber der schläft die meiste Zeit.«
»Gut«, sagte Jarrn. »Das macht die Sache leichter.« Er sah sich um, als suche er etwas Bestimmtes. »Wer hat den Schlüssel?«
»Der Aufseher«, antwortete der andere, während er mit einer Geste zur Rückwand der Schmiede wies. »Seine Kammer ist dort hinten.«
»Dann werden wir ihm mal einen kleinen Besuch abstatten«, beschied Jarrn entschlossen. »Ihr anderen arbeitet weiter, als wäre nichts geschehen. Die Piraten dürfen nicht merken, was vorgeht, sonst leiste ich euch gleich Gesellschaft.«
Er wollte schon losgehen, aber Kim hielt ihn an der Schulter zurück. »Was soll das?«
»Wir brauchen den Schlüssel für die Kette«, sagte Jarrn, während er seine Hand abstreifte.
»Aber wieso denn?« wunderte sich Kim. Er deutete auf die schweren Hämmer und Werkzeuge in den Händen der Zwerge. »Hier sind doch Werkzeuge genug, um sie aufzubrechen.«
Jarrn zog eine Grimasse und lachte verächtlich. »Was bist du nur für ein Narr«, sagte er. »Diese Kette stammt aus unseren Schmieden in den östlichen Bergen. Kein Werkzeug dieser Welt vermag sie zu zerbrechen.«
Sie durchquerten die Halle, während die Zwerge rings um sie herum wieder eifrig zu hämmern und schlagen anfingen. Ein kleines Stück neben dem Loch in der Wand, in dem die Kette verschwand, fanden sie eine Tür aus schweren, eisenbeschlagenen Bohlen. Kim öffnete sie behutsam einen Spaltbreit und lugte hindurch. Dahinter lag, von einem Becken voller glühender Kohlen nur schwach erhellt, eine kleine Kammer mit einem groben Schreibtisch samt dem dazu gehörigen Stuhl und einem niedrigen, strohgedeckten Bett. Auf dem Stroh lag eine zusammengerollte Gestalt und schnarchte laut: der Aufseher, von dem der Gefangene gesprochen hatte.
Unendlich vorsichtig öffnete Kim die Tür weiter, bedeutete Jarrn mit Gesten, leise zu sein, und schlich auf Zehenspitzen in den Raum hinein.
Gebannt sah er sich um. Die Kette endete direkt über dem Bett des Schlafenden, wo sie mit einem gewaltigen Vorhängeschloß an einem eisernen Ring befestigt war. Den dazu passenden, ebenso übergroßen Schlüssel trug der Wächter am Gürtel.
Kim näherte sich dem Lager, blieb mit klopfendem Herzen stehen und betrachtete eingehend das Gesicht des schlafenden Mannes.
Es war bärtig und breit und sehr grob, der Mund stand halb offen und zeigte, daß der Mann in tiefem Schlaf lag. Trotzdem zitterten Kims Hände, als er sie nach dem Gürtel des Mannes ausstreckte, um den Schlüssel davon zu lösen. Jarrn hielt ihn mit einer blitzschnellen Bewegung zurück. »Laß das!« flüsterte er. »Das kann ich besser.« Und das konnte er tatsächlich. Blitzschnell und behende wie ein Taschendieb löste er den Schlüssel vom Gürtel des Mannes, trat grinsend zurück und streckte die Arme nach dem Schloß aus. Er war zu klein, um es zu erreichen, und so schlang Kim die Arme um seine Hüften und hob ihn hoch. Ebenso lautlos wie der Zwerg den Schlüssel an sich genommen hatte, drehte er ihn nun im Schloß herum und öffnete es.
Aber damit hörte ihr Glück auf.
Das Schloß sprang mit einem Klirren auf, und die schwere Kette fiel so wuchtig auf den Leib des Aufsehers herab, daß diesem sogar die Luft für einen überraschten Schrei wegblieb. Kim und der Zwerg standen wie gelähmt da und starrten in die plötzlich aufgerissenen Augen des Aufsehers. Dann schleuderte der Mann die Kette beiseite und sprang in der gleichen Bewegung vom Bett hoch.
Kim machte einen entsetzten Hüpfer zurück, als der Aufseher nach ihm griff. Es gelang ihm, den zupressenden Händen auszuweichen, aber er verlor das Gleichgewicht, stolperte ein paar ungeschickte Schritte zurück und fiel schließlich rücklings über den Stuhl. Noch während er stürzte, sah Kim, wie Jarrn auf der Stelle herumfuhr und mit einem gewaltigen Satz aus der Tür verschwand.
Aber es blieb keine Zeit, über den Verrat des Zwerges auch nur eine Sekunde nachzudenken. Der Aufseher packte Kim an Kragen und Hosenbund und riß ihn grob in die Höhe. »Wer bist du?« schrie er Kim an. »Was tust du hier?« Es schienen keine Fragen der Art zu sein, auf die er eine Antwort erwartete, denn er schüttelte Kim bei diesen Worten so sehr, daß dieser gar nichts hätte sagen können, selbst wenn er gewollt hätte. Aber plötzlich hörte der Mann auf, Kim hin- und herzuwirbeln, und seine Augen weiteten sich. Einen Herzschlag lang starrte er ihm ins Gesicht, dann fuhr er wie elektrisiert herum und blickte den Ring und das offenstehende Vorhängeschloß an, als begriffe er erst jetzt wirklich, was geschehen war.
»Verrat!« brüllte er. »Die Gefangenen!«
Schon bewegte sich das Ende der Kette wie der Schwanz einer eisernen Schlange. Rasselnd glitt es vom Bett herunter und bewegte sich auf das Loch in der Wand zu. Der Aufseher schrie abermals zornig auf und stürzte darauf zu, ließ Kim dabei jedoch nicht los. Er verfehlte sein Ziel. Den Bruchteil einer Sekunde ehe er es erreichte, verschwand die Kette in der Wand, und aus der Schmiede draußen erscholl ein triumphierender Jubel.
»Verrat!« schrie der Wächter noch einmal. Wütend richtete er sich auf, starrte Kim an und hob die Hand, als wolle er ihn schlagen. Doch er führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern bog Kim nur grob den Arm auf den Rücken, so daß dieser vor Schmerz aufstöhnte und sich krümmte, und zog mit der anderen Hand ein Schwert aus dem Gürtel. Wenigstens versuchte er es. Denn plötzlich landete eine schwarze, zappelnde Gestalt in seinem Nacken, krallte sich mit einer Hand in seinem Gesicht fest und begann mit der anderen, darauf einzuschlagen, wobei sie mit schriller Stimme Flüche und Verwünschungen ausstieß.
Der Mann taumelte, prallte ungeschickt gegen den Tisch und versuchte, den Angreifer abzuschütteln, aber mit einemmal waren überall kleine, dürre Gestalten: gleich mehrere stürzten sich gleichzeitig auf den Aufseher und rangen ihn durch ihre bloße Überzahl zu Boden, obwohl sich dieser mit aller Kraft wehrte. Schon war er mit Fetzen aus seiner eigenen Kleidung gefesselt und geknebelt. Alles ging so schnell, daß ihm nicht einmal Zeit für einen letzten Schrei blieb.
Kim richtete sich taumelnd auf und rieb sich den schmerzenden Arm. »Danke«, murmelte er, als er jetzt Jarrn unter den Zwergen erkannte. »Das war knapp.«
»Du hättest dich eben nicht erwischen lassen sollen, Dummkopf«, antwortete Jarrn vorlaut wie immer.
Diesmal aber lächelte Kim. »Und ich habe schon gedacht, du würdest mich einfach zurücklassen.«
Jarrn schürzte die Lippen. »Damit er dich niederschlägt und anschließend den ganzen Berg zusammenbrüllt?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Und außerdem sind wir jetzt quitt«, brummte er eher zu sich selbst als an Kim gewandt. Kim zog es vor, nicht weiter über die Bedeutung dieser Worte nachzudenken, und wandte sich statt dessen zur Tür, um zum Ausgang der Schmiede zurückzukehren.
»Wo willst du hin?« rief ihm Jarrn nach.
Kim deutete zur anderen Seite der Halle. »Ich hatte nicht vor, hierzubleiben«, sagte er.
»Wir auch nicht, stell dir vor«, höhnte Jarrn. »Aber dort kommen wir nicht hinaus. Draußen wimmelt es von Flußleuten.«
»Ach ja?«, erwiderte Kim ärgerlich. »Sollen wir hier solange warten, bis es ihnen zu langweilig wird und sie heimgehen?«
Da streckte ihm Jarm die Zunge heraus, ließ ihn dann einfach stehen und wandte sich heftig gestikulierend an seine Brüder. »Die Hälfte von euch arbeitet weiter!« befahl er. »Macht ordentlich Lärm, damit sie denken, in der Schmiede wäre alles beim alten. Einer hält Wache. Die anderen kommen zu mir.«
Die Zwerge gehorchten, und zwar so widerspruchslos und rasch, daß Kim sich doch sehr wunderte. Er hatte es noch nicht erlebt, daß ein Zwerg etwas tat, ohne zu maulen oder eine gehässige Bemerkung anzubringen. Aber gut die Hälfte der zerlumpten Gestalten trat nun sogleich an die Feuer und begann, einen Lärm zu vollführen, daß der ganze Berg widerzuhallen schien. Die anderen drängten sich zu Kims Verblüffung in die kleine Kammer des Aufsehers hinein - und begannen mit Hämmern und Spitzhacken auf die Rückwand des Raumes einzuschlagen.