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»Was ist los mit dir?«

Kim drehte mühevoll den Kopf und sah in Priwinns Gesicht. Er hatte nicht gemerkt, daß sich der Steppenprinz neben ihn gesetzt hatte. »Du siehst aus, als hättest du gerade die größte Niederlage deines Lebens erlebt.«

»Ich bin einfach nur müde«, murmelte Kim.

»Das sind wir alle«, antwortete Priwinn. »Aber irgendwas stimmt doch nicht mit dir - also heraus mit der Sprache.« Kim zögerte einen Moment, biß ein weiteres Stück von seinem Fleisch ab, um Zeit zu gewinnen, und antwortete schließlich mit vollem Mund: »Die Kinder, Priwinn.«

»Was soll mit ihnen sein?« wunderte sich Priwinn. »Wir haben sie befreit. Du tust ja gerade so, als wäre dir das nicht recht.«

»Unsinn!« Kim schluckte heftig. »Aber es sind nur so wenige. Und es sind nicht die, nach denen wir gesucht haben.«

»Jedes einzelne Leben ist wichtig«, meinte Gorg von der anderen Seite her.

»Natürlich«, murmelte Kim. »Entschuldigt bitte. Es ist nur ...« Er suchte einen Moment vergeblich nach Worten und schüttelte schließlich hilflos den Kopf. »Es war alles letztlich doch vergebens«, murmelte er. »Nichts hat sich geändert.«

»Und was hast du erwartet, Blödmann?«

Kim mußte nicht den Blick heben, um zu wissen, daß Jarrn sich zu ihnen gesellt hatte. Trotzdem tat er es und starrte den Zwerg böse an. »Ich wette, du weißt, was es mit den verschwundenen Kindern auf sich hat«, sagte Kim. Der Zwerg blickte ihn auf eine Weise an, die Kim unmöglich deuten konnte. Dann antwortete er: »Und ich wette, ich würde es dir nicht sagen, selbst wenn ich es wüßte.« Priwinn fuhr wütend auf, aber Jarrn machte eine rasche Handbewegung und fuhr in verändertem Tonfall fort: »Wir haben unser Wort gehalten. Ihr seid zurück. Meine Brüder und ich gehen jetzt.«

Kim legte demonstrativ den Kopf in den Nacken und suchte den Nachthimmel ab. »Vereinbart war, daß ihr uns zum großen Baum bringt«, erinnerte er.

»Das haben wir«, antwortete Jarrn. Er deutete mit der Hand in die Dunkelheit hinter sich. »Wenn es Tag wird, werdet ihr einen Hügel sehen. Dahinter liegt er.«

»Warte einen Augenblick«, sagte Priwinn. Er stand auf, bedeutete Gorg mit einer Kopfbewegung, auf Jarrn aufzupassen, und verschwand mit schnellen Schritten. Schon wenige Augenblicke später kam er zurück, aber er war nicht mehr allein. Neben ihm ging Eib, der Baumjunge mit den blauen Blättern.

»Dieser Zwerg behauptet, daß wir in der Nähe deines Baumes sind«, sagte Priwinn und deutete auf Jarrn.

»Stimmt das?«

Eib sah sich unschlüssig um. Es dauerte lange, bis er antwortete, und als er es tat, da klang seine Stimme sehr unsicher. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Es kommt mir ... bekannt vor. Vielleicht.«

Priwinn seufzte und verdrehte die Augen. Jarrn zog wieder eine Grimasse. »Jetzt seid ihr so schlau wie zuvor«, sagte der Zwerg gehässig. »Aber ihr werdet uns schon glauben müssen, ob euch das paßt oder nicht. Außerdem - wenn wir gehen wollen, dann tun wir das auch.«

»Bist du sicher?« grollte Gorg.

Jarrn kicherte böse. »Völlig, Tölpel. Wir hätten euch jederzeit einfach zurücklassen können. Wenn du mir nicht glaubst, dann frag den da.« Er deutete auf Kim, der widerstrebend nickte.

»Und warum habt ihr das nicht getan?« fragte Priwinn. »Dir hattet mein Wort«, erwiderte Jarrn beleidigt. »Aber der Burgfrieden ist vorüber. Wir werden jetzt gehen - und wenn wir uns das nächste Mal sehen, dann wird dieses Treffen anders verlaufen als das letzte, das verspreche ich.«

»Und ich auch«, schloß Priwinn haßerfüllt.

Kim wandte sich niedergeschlagen ab und entfernte sich ein wenig vom Feuer. Der Streit, der jäh wieder zwischen Priwinn und dem Zwerg aufgeflammt war, machte ihm klar, daß sich nichts geändert hatte. Für einige kurze Augenblicke hatte er sich der Hoffnung hingegeben, daß die gemeinsam überstandenen Gefahren aus Feinden vielleicht Freunde oder zumindest Verbündete gemacht hätten. Aber so war es nicht. Und als sich Kim nach einer Weile umdrehte und wieder zum Feuer zurückging, da waren die Zwerge schon lautlos wie Gespenster in die Nacht entschwunden. Sie brachen am nächsten Tag erst um die Mittagsstunde auf, denn das Essen und die Wärme des Feuers taten nach und nach ihre Wirkung, so daß sie alle in einen tiefen, erschöpften Schlaf fielen. Erst spät am Vormittag erwachten sie. Sie sahen tatsächlich den Hügel, von dem Jarrn gesprochen hatte, aber er war viel weiter entfernt als erwartet, und die wenigen Stunden Schlaf und die eine Mahlzeit hatten längst nicht ausgereicht, ihre Kräfte völlig zu erneuern, so daß sie nur langsam von der Stelle kamen. Als sie endlich den Kamm des Hügels erreichten, da war der Tag schon weit fortgeschritten, und die Sonne begann das letzte Drittel ihrer Wanderung.

Auch auf der anderen Seite des Hügels spannte sich der blaue Himmel. Da war kein gewaltiges Himmelsgewölbe aus Ästen und Blättern, kein grüngefärbtes Sonnenlicht. - Der Baum war nicht da.

Kim blieb enttäuscht stehen. »Er hat gelogen«, flüsterte er. »Die Zwerge haben uns belogen, Priwinn.«

Der Steppenprinz nickte grimmig. »Was hast du erwartet?« fragte er. »Wahrscheinlich haben sie uns in die Irre geführt. Wir werden Monate, wenn nicht Jahre brauchen, um wieder nach Hause zu kommen.«

»Nein«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Das werden wir nicht. - Wir sind da.«

Etwas am Klang dieser Stimme erschreckte Kim zutiefst, und als er sich umdrehte, blickte er in Eibs Gesicht, das unter dem Braun seiner verwitterten Rindenhaut leichenblaß geworden war. Die Augen des Baumjungen waren weit und fast schwarz vor Entsetzen, und seine ausgestreckte, zitternde Hand deutete nach Osten.

Kim drehte sich in dieselbe Richtung. Er blickte nun nach unten, statt in den Himmel hinauf.

Und dann sah er den Baum.

Er war gefallen.

Wo sich vorher ein ungeheuerliches Gebilde aus Holz und Blattwerk und erstarrter Zeit erhoben hatte, da ragte jetzt ein zersplitterter Stumpf in den Himmel. Er war zwar noch immer zehnmal höher als der höchste Festungsturm, den Kim je gesehen hatte, aber doch nichts als ein jämmerlicher Überrest dessen, was der Baum einmal gewesen war. Der Stamm, in mehrere Teile zerbrochen, hatte sich nach Osten geneigt und dabei Wälder, Wiesen, Bäche und ganze Hügelketten unter sich begraben. Und weit, weit entfernt fast schon am Horizont, ragte die zerdrückte Krone des Baumes wie ein Gebirge aus grünen Schatten empor. Sie brauchten fast den Rest des Tages, um die Baumruine zu erreichen. Kim hatte geglaubt, daß sich das Entsetzen, mit dem ihn der erste Anblick des gewaltigen, zerstörten Gebildes erfüllt hatte, während des Marsches etwas legen würde, aber das genaue Gegenteil trat ein - je näher sie kamen, desto erschütterter war er. Auch unter den anderen breitete sich eine immer größer werdende Unruhe aus. Der einzige, der äußerlich völlig ruhig zu bleiben schien, war Eib. Aber Kim behielt ihn aufmerksam im Auge, und er begriff sehr bald, daß es keine wirkliche Ruhe war. Auf Eibs Gesicht war nicht die mindeste Regung abzulesen, doch es war so etwas wie die Starre des Todes, die von seinen Zügen Besitz ergriffen hatte. Er marschierte klaglos zwischen ihnen, aber seine Bewegungen hatten etwas von einer Maschine, die einfach weiterlief, ohne zu wissen, warum. Als sie spät am Abend beim Baumstumpf ankamen und am Fuße der riesigen hölzernen Treppe hielten, war Eib der einzige, der nicht sichtbar auf die ungeheuerliche Zerstörung reagierte, die sich ihren Blicken darbot.

Es war sehr still. Während der letzten Stunde hatte sich ihr Marsch in willkürlichen Schlangenlinien vollzogen, mit denen sie den gewaltigen Trümmerstücken und Holzresten auswichen, die den Boden auf Kilometer im Umkreis bedeckten. Zerbrochene Äste, jeder einzelne gewaltig wie ein ganzer Wald, riesige Splitter des Stammes, groß wie Häuser und Türme, ganze Gebirge aus zerquetschten Blättern hatten sie immer wieder zu Umwegen gezwungen und den Stumpf des Baumes mehr als einmal ihren Blicken entzogen. Aber sie hatten nicht den mindesten Laut gehört. Nicht eine einzige Vogelstimme, nicht das leiseste Rauschen des Windes unterbrach die Stille des Todes, die sich über dem Land ausgebreitet hatte.