»Was ist bloß geschehen?« flüsterte Priwinn erschüttert. Natürlich antwortete niemand. Und es war auch nicht nötig. Im Grunde, dachte Kim niedergeschlagen, war es gleich, was geschehen war. Alles, was jetzt noch zählte, war, daß es geschehen war.
Langsam trat er neben den Baumjungen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Eib fuhr zusammen, als erwachte er zum erstenmal seit Stunden aus der Erstarrung, in die er gefallen war. Mit einer unendlich mühsamen Bewegung drehte er den Kopf und sah Kim an, und endlich erblickte Kim in seinen Augen das, worauf er die ganze Zeit gewartet hatte: das Glitzern von Tränen.
Aber alle Worte des Trostes, die Kim sich zurechtgelegt hatte, waren plötzlich fort. Er war nicht in der Lage, dem Jungen Trost zuzusprechen. Er selbst fühlte sich leer und zerschlagen, und etwas in ihm schien zerbrochen zu sein wie dieser gigantische Baum. Kim konnte Eib jetzt nicht helfen, er brauchte selbst Hilfe.
»Laßt uns hinaufgehen.« Priwinn deutete auf die Treppe, die den Stumpf hinaufführte. »Vielleicht ist jemand oben.« Aber Eib schüttelte nur den Kopf. »Nein.«
Priwinn ging eine einzige Stufe hinauf, blieb wieder stehen und machte dann niedergeschlagen kehrt.
Sie wollten eben zu den anderen zurückgehen, da raschelte es neben ihnen in den Resten eines zerbrochenen Astes, und plötzlich trat eine knorrige Gestalt mit Haaren und Kleidern aus grünem Blattwerk hervor.
»Oak!« rief Kim aus und rannte auf den Mann zu.
Aber er blieb mitten in der Bewegung stehen, als er dessen Blick gewahrte. Die Augen waren so leer und dunkel wie die von Eib, und sein Gesicht sah mit einemmal nicht mehr nur verwittert aus, sondern alt. Uralt. Und unendlich müde.
Auch Priwinn, Gorg und einige der größeren Kinder kamen auf Oak zu, blieben aber wie Kim in einiger Entfernung stehen.
Oak hob müde den Kopf und sah mit leichter Verwunderung auf, und Kim begriff, daß er bisher gar nicht mitbekommen hatte, was um ihn herum geschah. »Er ist gefallen«, flüsterte der grüne Baummann. »Er ist gefallen.« Kim überwand sich als erster und trat weiter auf den knorrigen Mann zu. »Oak«, sagte er leise. »Was ist hier geschehen? Erzähle uns.«
»Er ist gefallen«, murmelte der Baummann wieder. »Er ist... einfach umgefallen.« Er schien Kims Worte gar nicht gehört zu haben.
»Wie kam das?« fragte nun auch Priwinn, lauter als Kim und in viel schärferem Ton.
»Gefallen«, sagte Oak noch einmal, dann schüttelte er den Kopf, blickte auf und flüsterte: »Und wir selbst sind schuld daran.«
Priwinn und Kim sahen einander an. »Ihr?« wiederholte der Steppenprinz.
»Oak, bitte! Erklär uns, was hier passiert ist! Der... dieser Baum kann doch nicht einfach umgestürzt sein!«
»Ein Sturm«, murmelte Oak nur. Er sah Prinz Priwinn an, aber der Blick seiner dunklen Augen schien geradewegs ins Leere zu gehen. Seine Stimme wurde immer leiser und zitterte, als ihn die Erinnerung an das furchtbare Geschehen zu übermannen drohte. »Es gab einen Sturm«, sagte er dann. »Einen ... schlimmen Sturm.«
»Aber das ist unmöglich«, meinte Priwinn. »Dieser Baum hat Tausende von Stürmen überstanden.«
»Ein Sturm«, sagte Oak noch einmal. »Er ist... er ist einfach umgefallen.«
Priwinn wollte noch etwas sagen, aber Kim legte ihm rasch die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. Er begriff, daß sie im Moment von Oak nichts mehr erfahren würden. Der Baummann befand sich in einem Zustand, in dem man nicht mit ihm reden konnte.
Statt weiter in ihn zu dringen, trat Kim ganz dicht neben ihn und streckte die Hand aus. Da geschah etwas Unerwartetes. Oak hörte mit seinem unaufhörlichen Geplapper auf, nahm Kim in die Arme und begann plötzlich zu schluchzen; lautlos und ohne eine Träne, aber sehr heftig.
Unter allen anderen Umständen wäre Kim das peinlich gewesen. Er war nur ein Junge, und Oak war ein Mann, der vielleicht unvorstellbar alt sein mochte. Und trotzdem war es nun Kim, der ihm Trost spendete, ganz einfach, indem er da war und sich von ihm berühren ließ.
Und was Priwinns Worte nicht bewirkt hatten, das geschah jetzt von selbst: Oak stand eine ganze Weile so da, aber schließlich beruhigte er sich, und als er sich mit einer fast verlegenen Bewegung wieder von Kim zurückzog und ihn ansah, da war sein Blick wieder klar; noch immer verschleiert von Entsetzen und Furcht, aber zumindest erkannte er sein Gegenüber jetzt.
»Verzeih«, murmelte er. »Ich habe ... die Beherrschung verloren.«
»Das macht nichts«, sagte Kim. »Könnt Ihr uns erzählen, was geschehen ist, Oak?«
Oak zögerte kurz, aber dann nickte er. »Er ist gefallen«, sagte er. »Limb und die anderen hatten recht. Wir haben ihn zerstört. Es gab einen Sturm, wie es schon Tausende von Stürmen gegeben hat. Aber diesmal hat er ihn nicht überstanden. Er war geschwächt. Wir haben ihm zu viele Wunden zugefügt. Wir haben zuviel aus seinem Herz herausgeschnitten, als daß er noch die Kraft gehabt hätte, standzuhalten.«
»Wo sind die anderen?« flüsterte Priwinn. »Sind sie ... tot?«
Wieder antwortete Oak nicht gleich, und während der Mann den Steppenprinzen schweigend anstarrte, fürchtete Kim sich schon vor der Antwort. Aber da schüttelte der Baummann ganz sacht den Kopf. »Viele sind tot«, sagte er. »Hunderte, wenn nicht Tausende. Die noch leben, haben sich auf die Äste zurückgezogen.« Er deutete dorthin, wo die gewaltige Krone des Riesenbaumes mit dem Horizont verschmolz. »Aber sie werden sterben«, fuhr er im Flüsterton fort. »Der Baum ist gefallen. Seine Äste werden verdorren, und es gibt keinen anderen Ort, wo wir leben könnten.«
»Aber du lebst doch auch!« widersprach Kim beinahe verzweifelt. »Und ... und Eib hat überlebt in der Gefangenschaft der Flußleute. Ihr werdet wieder eine neue Heimat finden.«
Oak blickte ihn an, und plötzlich lächelte er, aber es war ein sehr trauriges Lächeln. »Ich wollte, es wäre so«, sagte er. »Aber wir können nirgendwo anders leben als auf unserem Baum. Für eine Weile können wir woanders sein. Aber ohne Baum wird es unser Volk bald nicht mehr geben.«
»Das darf nicht sein!« rief Kim aus und fühlte einen Zorn, der so heftig war, daß er ihn selbst erschreckte. Es war ein Zorn, der niemand bestimmtem galt, sondern einzig der Tatsache, daß alles so gekommen war. »Ihr werdet einen anderen Baum finden«, versuchte er es. »Eine andere Heimat.«
»Laß es gut sein, kleiner Held«, brummte Gorg. »Er sagt die Wahrheit. Es gibt keinen anderen Ort, an dem sie leben könnten. Und es hat nur diesen einen Baum gegeben.«
»Diese verdammten Zwerge!« sagte Priwinn mit zitternder Stimme. »Ich schwöre, daß ich sie und ihre verdammten Eisenmänner dorthin zurückjagen werde, wo sie hergekommen sind. Und wenn es das letzte ist, was ich tue!« Da schüttelte Oak plötzlich den Kopf. »Es waren nicht die Zwerge, Prinz Priwinn.«
»Natürlich nicht!« sprach Priwinn heftig. »Nur ihre Eisenmänner, nicht wahr?«
»Es war nicht ihre Schuld«, wiederholte Oak mit Nachdruck. »Nicht sie haben den Baum zerstört. Wir selbst waren es. Ihr habt uns gewarnt, du und dein riesiger Freund dort und Limb und viele andere. Wir haben nicht auf euch gehört, und nun müssen wir dafür bezahlen.«
»Jemand anderer wird noch einen viel höheren Preis bezahlen«, beharrte Priwinn, aber wieder schüttelte der Baummann sacht den Kopf, und diesmal lächelte er sogar. »Gibt es einen höheren Preis als den Untergang eines ganzen Volkes?«
Und diesmal antwortete Priwinn nicht mehr.
Sie übernachteten im Schatten des gewaltigen Baumstumpfes. Es gab genug trockenes Holz, so daß sie ein gewaltiges Feuer entzünden konnten, das sie vor der Nachtkälte und dem Wind schützte. Oak brachte ihnen zu essen: Früchte, Beeren und Obst in solchen Mengen, daß sie alle ihre knurrenden Mägen füllen konnten. Er fand seine Beherrschung im Laufe des Abends mehr und mehr zurück. Weder Kim noch einer der anderen sprachen ihn auf das schreckliche Geschehen an, doch er brachte von selbst die Rede darauf, nachdem sie gegessen hatten und noch eine Weile am Feuer zusammensaßen.