Kim antwortete nicht. Das Schlimme war, daß er Priwinn insgeheim verstand. Aber die Logik, mit der er argumentierte, war falsch. Vielleicht erreichte er wirklich etwas, indem er jede Maschine der Zwerge erschlug, und vielleicht konnte er das Unglück, das sich über Märchenmond ausbreitete, tatsächlich noch einmal wenden, indem er das Zwergenvolk vertrieb. Aber wenn das ein Sieg war, dachte Kim, dann war er zu teuer erkauft.
»Gib mir noch eine Nacht«, flüsterte er. »Morgen früh sage ich dir meine Antwort.«
Priwinn schien nicht nur enttäuscht, er blickte ihn mit unverhohlenem Zorn an. Aber er sagte nichts, sondern trat nur mit einem wütenden Schritt an Kim vorbei, ballte die Hände zu Fäusten und starrte in den See. Plötzlich fuhr er zusammen, machte einen weiteren Schritt und beugte sich vor, um sein Spiegelbild zu betrachten.
»Tu das lieber nicht«, sagte Kim. »Dieser See ist -«
»Ich kenne sein Geheimnis«, unterbrach ihn Priwinn grob. »Wahrscheinlich besser als du. Aber sieh doch!« Widerwillig drehte sich Kim herum und blickte ebenfalls auf das Wasser herab, wobei er es sorgsam vermied, sein eigenes Spiegelbild anzusehen. Priwinns Antlitz spiegelte sich dunkel, aber sehr klar auf dem unbewegten Wasser, und da es nicht sein eigenes war, sah Kim es genau so, wie es wirklich aussah: schmal, mit dunklen Schatten der Erschöpfung und Mutlosigkeit unter den Augen, und sehr verbittert. »Sieh nicht hin«, bat Kim noch einmal.
Aber Priwinn schüttelte heftig den Kopf und hielt ihn zurück, als Kim sich abermals entfernen wollte. »Sieh doch!« sagte er noch einmal und deutete mit der ausgestreckten Hand auf sein Konterfei im Wasser. Dann zog er die Hand zurück, berührte mit den Fingerspitzen seine Wangen und fuhr wie elektrisiert zusammen.
»Was hast du?« fragte Kim besorgt.
Statt zu antworten, prallte Priwinn jäh vom Ufer des verzauberten Sees zurück, blieb stehen und hob nun beide Hände, um sich über die Wangen zu fahren. Und als Kim neugierig näher trat und ihn im blassen Licht des Mondes betrachtete, da glaubte er, einen dunklen Schatten auf den Wangen des Steppenprinzen zu erkennen, der bisher nicht dagewesen war.
»Ist das ein Bart?« fragte er zweifelnd.
Priwinn keuchte. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ich ... ich werde älter«, flüsterte er.
Kim zuckte zuerst nur mit den Achseln, das passiert schließlich jedem einmal...
Doch dann erschrak auch er, als er plötzlich begriff, was Priwinns Worte bedeuteten.
»Dein Vater...«
Priwinns Hände begannen zu zittern. Voller unverhohlenem Entsetzen starrte er Kim an, fuhr sich noch einmal mit den Fingerspitzen durch das Gesicht und hob dann die Hände vor die Augen, als erwarte er, nicht mehr die Hände eines Jungen, sondern die faltigen Finger eines uralten Greises zu sehen. »Ich beginne zu altern«, flüsterte er noch einmal. »Du weißt, was das bedeutet!«
Kim nickte stumm. Und Priwinn flüsterte: »Meine Zeit als Prinz ist vorbei, Kim. - Mein Vater ist tot.«
Sie verließen Oak, noch bevor die Sonne am nächsten Morgen aufging. Die Baumleute, von denen sich im Laufe der Nacht - angelockt durch das Licht des Feuers - noch eine ganze Anzahl zu ihnen gesellt hatte, hatten angeboten, sich um die Kinder zu kümmern und dafür zu sorgen, daß sie zu ihren Eltern zurückgebracht wurden; ein Vorschlag, den Kim und die beiden anderen nur zu bereitwillig annahmen. Und Kim hatte noch eine weitere, angenehme Überraschung erlebt, als er die Augen aufschlug: Sternenstaub! Oak und seine Freunde hatten sich während der ganzen Zeit um den Hengst gekümmert, und das prachtvolle Tier zeigte sich aufs höchste erfreut, Kim wiederzusehen, so wie auch Kim sich über ihn freute. Für den Steppenreiter hatte sich ebenfalls ein Pferd gefunden, während Gorg auf Oaks leicht verlegene Entschuldigung, daß es für ihn kein passendes Reittier gäbe, nur gegrinst und behauptet hatte, daß er ohnehin schneller sei als jedes Pferd.
Nachdem sie auch Bröckchen und den Kater Sheera auf die Sättel der beiden Pferde hochgehoben hatten, verabschiedeten sie sich von allen und ritten in südöstlicher Richtung los. Priwinn hatte seit gestern abend kaum ein Wort gesprochen, und Kim verstand das nur zu gut. Er akzeptierte auch, daß sein Freund jetzt nichts anderes wollte, als so schnell wie möglich nach Caivallon zurückzukehren. Um so überraschter war er gewesen, als Priwinn an diesem Morgen sich anbot, Kim ein Stück des Weges zu begleiten. Caivallon und Gorywynn lagen ganz und gar nicht in der gleichen Richtung. Es war für Priwinn ein Umweg von mehreren Tagen, mit Kim bis zu jenem Punkt zu reiten, an dem sich ihre Wege unweigerlich trennen mußten, wollte Priwinn die Festung der Steppenreiter überhaupt erreichen. Auch die versprochene Entscheidung hatte er nicht von Kim eingefordert Zwei Tage lang ritten sie fast ununterbrochen in südöstliche Richtung, und wie schon einmal mieden Priwinn und Gorg alle Ansiedlungen und suchten möglichst einsame Orte, um ihr Nachtlager aufzuschlagen. Sie sprachen nicht viel miteinander in dieser Zeit. Priwinn hockte die meiste Zeit wie erstarrt im Sattel, und sein Blick ging ins Leere. Wenn Kim ihn ansprach, dann geschah es mehrmals, daß der Steppenreiter plötzlich wie aus dem Schlaf hochschrak und ihn verwirrt ansah, so daß Kim seine Worte wiederholen mußte. Er versuchte, sich in die Lage Priwinns zu versetzen, aber Kim mußte sich eingestehen, daß es ihm nicht gelang. Er selbst hatte noch niemals einen nahen Verwandten verloren. Es war eine Sache, über den Schmerz zu reden und zu behaupten, daß man ihn verstand - aber in den Tagen, in denen er neben Priwinn herritt und sein starres, fast ausdrucksloses Gesicht anblickte, da begann Kim zu begreifen, daß es etwas ganz anderes war, diesen Schmerz zu empfinden.
Am späten Nachmittag des dritten Tages überquerten sie eine Hügelkette, und als sie auf dem Kamm des letzten Hügels angelangt waren und sich das Land nun wieder flach und eben unter ihnen ausbreitete, da verhielt Priwinn sein Pferd und blickte mit gerunzelter Stirn nach Süden. Auch Kim spürte, daß etwas an dem Anblick nicht so war, wie es sein sollte. Aber anders als Priwinn brauchte er eine Weile, um zu begreifen, was es war.
Wo sie bisher auf ihrem Ritt ein scheinbar willkürliches Durcheinander aus Wiesen, Wäldern, Felsgruppen, Bächen, Feldern und Wegen, kleinen Dörfern oder Bauernhöfen gesehen hatten, da wandelte sich nun das Land allmählich zu einem gewaltigen, geometrischen Muster. Das staubige Band einer Straße zog sich wie ein braungrauer, mit einem gewaltigen Lineal gezogener Strich schräg durch die Ebene, und rechts und Links davon begann man, die Erde in ein Schachbrettmuster aus Braun und Schwarz und den unterschiedlichsten Grüntönen aufzuteilen: Felder, so regelmäßig angelegt, daß ihr Anblick fast in den Augen weh tat. Priwinn sagte kein Wort, aber sein Gesicht verdüsterte sich. Dann löste er die linke Hand vom Zügel und deutete damit auf einen Acker, der unmittelbar in ihrer Nähe lag. Gut die Hälfte davon war bereits umgepflügt - ein Muster aus schnurgeraden, parallellaufenden Linien zerschnitten die Erde in zahllose, handtuchbreite Streifen, und an dem allmählich vorrückenden Ende der letzten dieser Linien bewegte sich ein winziges, mattgraues Etwas, das von einem sonderbaren, metallf arbenen Ding gezogen wurde.
Als sie langsam die Flanke des Hügels hinunterritten und näher kamen, erkannte Kim, daß dieses Etwas ein Pferd war und ein Pflug, auf dem ein Bauer saß. Auch er mußte sie bemerkt haben, denn das seltsame Gespann hörte plötzlich auf, sich zu bewegen. Als sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, stieg der Bauer herunter und kam ihnen wild gestikulierend entgegen. Kim begriff erst jetzt richtig, daß Priwinn keineswegs dem Feldrand oder einem der schmalen Trampelpfade folgte, die die Felder voneinander trennten, sondern sie quer über die frisch gepflügten Furchen führte. Sie waren noch zu weit von dem Bauern entfernt, um seine Worte zu verstehen, aber das wütende Gestikulieren seiner Arme machte deutlich genug, wie zornig er war.