Kim ging durch den kurzen Flur bis in die Stube, und der Bauer, Priwinn und unter einiger Mühe auch der gebeugte Riese folgten ihnen. Wie sich herausstellte, hatte ihr Gastgeber kräftig untertrieben, was die Güte seiner Gastfreundschaft anging. Seine Frau, die sich, nachdem sie ihren ersten Schrecken bei Gorgs Anblick überwunden hatte, als sehr freundlich erwies, trug ein Mahl auf, das sogar den Appetit des Riesen stillte. Zumindest war Gorg höflich genug, dies zu behaupten, nachdem er fünf Laibe Brot, ein Faß Wein und ein ganzes Käserad vertilgt hatte. Einzig Bröckchen beschwerte sich vorlaut über zu kleine Portionen, nachdem er zum drittenmal hintereinander Kims Teller leergefressen hatte, ehe dieser auch nur Gelegenheit fand, eine der duftenden Speisen zu kosten. Die Bauersfrau gab Kim lachend einen vierten Nachschlag und war leichtsinnig genug, im Scherz den Vorschlag zu machen, daß sich Bröckchen gern in die Vorratskammer des Hauses zurückziehen und dort sattfressen könnte. Bröckchen murmelte eine Zustimmung, und schon einen Augenblick später war er in der Küche und in der dort angrenzenden Vorratskammer verschwunden. Kim argwöhnte zu Recht, daß der Bäuerin ihre Großzügigkeit spätestens am nächsten Morgen bitter leid tun würde. Nun, sie würden die guten Leute für ihre Gastfreundschaft entschädigen.
Nachdem sie zu Ende gegessen hatten, zog der Bauer einen Tabaksbeutel hervor, stopfte sich eine Pfeife und hielt den Beutel anschließend auch seinen Gästen hin. Kim und der Steppenreiter lehnten dankend ab, während Gorg einen kräftigen Schnupfer nahm und dem verblüfften Bauern einen völlig geleerten Sack zurückgab. Dann nieste er, daß das Glas auf dem Tisch hörbar klirrte, lächelte entschuldigend und verließ mit der Bemerkung den Raum, daß er sich noch ein wenig die Füße vertreten wollte. Der Bauer schien darüber eher erleichtert, aber Kim entging nicht der vielsagende Blick, den Priwinn und der Riese tauschten, ehe Gorg - nach dem üblichen Rums gegen den Türsturz - gebückt aus dem Haus schlurfte. Kim fühlte, daß zwischen den beiden irgend etwas vorging. Während der letzten Tage hatte Priwinn mit Gorg so wenig wie mit ihm gesprochen. Doch die beiden ungleichen, aber vertrauten Freunde waren nicht unbedingt auf Worte angewiesen, um sich miteinander zu verständigen. Nein, dachte Kim, irgend etwas ging hier vor. Etwas verheimlichten ihm die beiden. Er nahm sich vor, den Steppenreiter darauf anzusprechen, sobald sie allein waren. »Dieses eiserne Pferd«, begann Priwinn, »ist wirklich erstaunlich. Ich habe gar nicht gewußt, daß es so etwas gibt.«
»Ich auch nicht - bis vor kurzem«, antwortete der Bauer und nahm lächelnd einen Zug aus seiner Pfeife.
»Aber Ihr werdet sie bald überall sehen, darauf wette ich.«
»Ja«, murmelte Priwinn. »Das glaube ich auch.«
Offensichtlich verstand der Bauer diese Worte völlig anders, als sie gemeint waren, denn er blies eine blaue Rauchwolke vor sich in die Luft und fuhr selbstzufrieden fort: »Sie sind viel stärker als richtige Pferde. Sie brauchen nichts zu fressen, brauchen keinen Schlaf, und sie werden niemals krank oder bockig.«
»Und außerdem«, hörte sich Kim plötzlich zu seiner Überraschung in bitterem Tonfall sagen, »werden sie niemals Hilfe holen, wenn du verletzt irgendwo liegst. Sie werden auch nicht stehenbleiben, wenn du aus dem Sattel stürzt, oder dich gegen einen Wolf oder einen Bären verteidigen.«
Der Bauer schien für einen Moment verwirrt, aber dann lächelte er, als hätte Kim etwas sehr Dummes gesagt. »Natürlich nicht«, sagte er ruhig. »Ich habe dein Pferd gesehen. Es ist ein wirklich prachtvolles Tier. Das schönste, das ich je gesehen habe.«
»Das stimmt«, antwortete Kim. »Sternenstaub ist mein Freund.«
»Auch ich habe ein solches Pferd«, sagte der Bauer, noch immer auf diese sonderbar verzeihende Art lächelnd. »Oh, es ist nicht ganz so schön wie dein Sternenstaub und weit nicht so edel. Wir hatten auch ein Fohlen, bis vor wenigen Wochen.«
»Ihr hattet?«
Der Bauer nickte traurig. »Es wurde gestohlen«, sagte er. »Eines Morgens kam ich in den Stall, und sein Verschlag war leer.« Er seufzte, schüttelte noch einmal traurig den Kopf und lächelte dann wieder: »Aber das andere ist mir ja geblieben. Ich habe es schon lange, und ich reite gern mit ihm aus. Jetzt kann ich es öfter tun als früher, weil ich das Eisenpferd habe. Früher mußte mein Hengst oft den Pflug ziehen oder den schweren Wagen, obwohl er doch eigentlich viel lieber draußen auf der Weide herumgelaufen oder mit mir über die Felder galoppiert wäre.«
Kim blickte den Bauern an, und mit einem Male kam er sich wirklich ein wenig naiv vor. Vielleicht war er das auch. Vielleicht waren sie es beide. Möglicherweise sagten sie beide die Wahrheit, und möglicherweise täuschten sie sich beide, in gewissem Maße. Und plötzlich, einen winzigen Augenblick nur, glaubte Kim die Antwort zu wissen, jene Antwort auf all seine Fragen, und auch den Weg, wie die fruchtbare Gefahr von Märchenmond abgewendet werden konnte. Aber ehe er den Gedanken greifen und in Worte fassen konnte, sagte Priwinn scharf: »Und eure beiden Knechte sind jetzt auch frei nicht wahr? Sie können tun und lassen, was sie wollen. Sie können hungern, im Winter unter freiem Himmel schlafen, und sie können -«
»Ihr irrt«, unterbrach ihn der Bauer. Er lächelte noch immer, aber in seiner Stimme war plötzlich ein scharfer Ton, der Kim alarmiert aufsehen ließ.
»Ich habe selbst dafür gesorgt, daß sie Arbeit und ein neues Zuhause in der Stadt gefunden haben«, erklärte der Mann. »Es geht ihnen jetzt besser als in den Jahren zuvor. Glaubt mir, Prinz Priwinn, sie hätten längst eine bessere Arbeit finden können. Eine, bei der sie nicht in jedem Winter hungern und frieren hätten müssen. Sie sind aus Treue bei mir geblieben, nicht aus Not.«
Priwinn blickte den Bauern mit einer Mischung aus Überraschung und Mißtrauen an. »Prinz Priwinn?« wiederholter er lauernd. »Wieso -«
»Gebt Euch keine Mühe«, unterbrach ihn der Bauer und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ich weiß, wer Ihr seid.« Er blickte den Steppenreiter schweigend an, dann deutete er mit dem zerkauten Mundstück seiner Pfeife auf Priwinns metallene Kleidung. »Und ich weiß auch, warum Ihr diese Rüstung tragt.«
»Und trotzdem hast du uns in dein Haus eingeladen?« wunderte sich Kim.
»Warum auch nicht?« entgegnete der Bauer. Einen Moment lang behielt er noch Priwinn im Auge, dann drehte er sich zu Kim herum. »Ich weiß nicht, wer du bist, Junge. Aber ich weiß, wer dieser junge Hitzkopf hier ist.« Priwinn fuhr bei diesen Worten zusammen, sagte aber nichts, und auch Kim spürte, daß die Worte des Bauern nicht so gemeint waren, wie sie klangen. »Ich weiß, daß Ihr nicht schlecht seid, Prinz Priwinn«, fuhr der Bauer, wieder an den Steppenreiter gewandt, fort. »Ihr seid ungestüm, aber das Ungestüme ist das Vorrecht der Jugend. Jedoch Ihr seid nicht ungerecht oder gar grausam. Ich weiß, daß ich Euch nicht zu fürchten habe.«