»Später einmal«, unterbrach ihn Priwinn, »wirst du uns verstehen. Wir mußten es tun, und wir werden es weiter tun. Überall. Bis dieser Fluch ein Ende hat!«
Kim fühlte nichts als eine tiefe, schmerzliche Leere. Der zertrümmerte Pferdekopf auf dem Tisch war nur ein Stück Metall, und trotzdem entsetzte ihn sein Anblick so sehr, als wäre es der eines wirklichen Tieres gewesen.
»Sie werden mir alles fortnehmen«, flüsterte der Bauer noch einmal.
»Unsinn!« antwortete Priwinn. »Wieviel mußtest du für dieses Pferd und die beiden Eisenmänner bezahlen?« Zum erstenmal löste der Bauer seinen Blick vom Tisch und sah wieder ihn an. Mit einemmal begann er am ganzen Leib zu zittern. »Ihr versteht nicht«, murmelte er. »Es ist nicht das Geld. Es ist -«
»Wieviel?« Priwinn schrie ihn beinahe an. »Sag es mir!« Der Bauer nannte mit zitternder Stimme eine Summe, und Priwinn griff in seinen Beutel, zählte eine Handvoll Goldmünzen ab und warf sie dem Bauern hin. »Hier!« sagte er verächtlich. »Das ist mehr als genug, deine Schulden zu bezahlen!«
»Aber es ... es ist nicht das Geld!« wimmerte der Bauer. »Die Zwerge... sie ... sie bestrafen es hart, wenn ihre Eisenmänner zerstört werden. Sie werden mich in die Gruben schicken! Und sie werden meiner Frau den Hof wegnehmen und sie davonjagen. Jetzt... jetzt haben wir alles verloren. Zuerst die Kinder und jetzt auch noch den Hof.« Priwinn blickte den Bauern betroffen an. Ihm war das, was er soeben gehört hatte, neu. Aber er fing sich rasch wieder. »Kommt mit uns«, sagte er. »Wenn Ihr Angst vor den Zwergen habt, dann begleitet uns nach Caivallon. Dort seid Ihr sicher. Bald wird dieser Alptraum vorüber sein, dann könnt Ihr auf euren Hof zurückkehren. Ich werde Märchenmond von diesen Kreaturen befreien!«
Aber wieder schien es, als hätte der Bauer ihn gar nicht verstanden. Sein Blick war auf Priwinns Gesicht gerichtet, aber er schien etwas ganz anderes zu sehen als dessen Anlitz. »Wir wollten doch nur ein bißchen ... ein bißchen Wohlstand. Das ist doch nicht zuviel verlangt: nicht mehr hungern müssen, nicht mehr frieren, weniger Sorgen haben, genug zu essen für unsere Kinder.«
Und ganz plötzlich, so schnell wie er gekommen war, erlosch der Zorn auf Priwinns Gesicht. Er ging zu dem Bauern und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das weiß ich«, sagte er mit ruhiger, fast sanfter Stimme. Er lächelte aufmunternd, beugte sich vor und hob mit der linken Hand die Münzen auf, die er dem Bauern hingeworfen hatte. »Nimö1 das«, sagte er. »Nimm dieses Geld und geh damit fort. Es ist genug, um irgendwo anders neu anzufangen. Glaub mir/ ich weiß, daß ihr nur Gutes wolltet.«
Der Bauer starrte die Goldmünzen an, die auf Priwinns ausgestreckter Hand glitzerten, machte eine Bewegung, wie um danach zu greifen, führte sie aber nicht zu Ende. »War es denn zuviel, was wir wollten?« fragte er.
»Nein«, antwortete Priwinn traurig. »Aber der Preis dafür ist zu hoch.«
Kim konnte nicht länger zuhören. Er kam sich vor wie der Zuschauer eines Theaterstückes, in dem alle handelnden Personen dazu verdammt waren, stets das Falsche zu sagen, ganz egal, wie sehr sie sich auch bemühten. Mit einem Ruck drehte er sich herum und stürmte aus dem Zimmer.
Die Dämmerung war hereingebrochen, während sie die Gastfreundschaft des Bauern genossen hatten. Bröckchen hüpfte mit einem leisen Schrei von seiner Schulter und verschwand raschelnd hinter der Hausecke, wohl um in Ruhe seine Nachtgestalt annehmen zu können. Kim blickte dem kleinen Wesen traurig nach, bis es seinen Blicken entschwunden war. Und plötzlich kam ihm diese ganze Welt ganz genauso vor wie Bröckchen - als verwandle sie sich, würde mit dem Untergang der Sonne von etwas unbeschreiblich Schönem, Märchenhaftem zu etwas ebenso Häßlichem und Abstoßendem. Nur, daß es vielleicht nie wieder Tag werden würde.
Eine geraume Weile verging, in der Kim versonnen dastand, als er Schritte hörte. Er wußte, daß es Priwinn war, ohne sich zu ihm umdrehen zu müssen.
Der Steppenreiter trat neben ihn, versuchte, seinen Blick aufzufangen und zuckte schließlich mit den Schultern, als es ihm nicht gelang; Kim sah es aus den Augenwinkeln. »Ich glaube, er hat sich wieder beruhigt«, meinte Priwinn dann.
Kim wandte sich nun doch zu ihm um. »Warum hat er das getan?« flüsterte er.
»Gorg?« Abermals zuckte Priwinn mit den Achseln. »Wenn nicht er, dann hätte ich es getan, spätestens morgen früh«, sagte er hart. »Sie müssen vernichtet werden. Es gibt keinen anderen Ausweg.«
Kim schauderte. Zuerst Kelhim, dachte er, dann Rangarig, die Eisriesen und schließlich Gorg ... War es wirklich so, daß nur Zorn und Bosheit zurückblieben, wenn der Zauber erlosch? Und was war mit Priwinn? Aufmerksam betrachtete er sein gar nicht mehr so jungenhaftes Gesicht. War es möglich, daß sich auch Priwinn verändert haben sollte? Kim glaubte für einen Moment einen harten, bitteren Zug in seinem Gesicht zu erkennen, der vorher nicht dagewesen war. Priwinn war noch immer der, den er kannte, und trotzdem ... Wieder mußte Kim an die Worte denken, die Brobing vor so langer Zeit gesagt hatte: Es ist, als würden wir etwas verlieren, und wir wissen nicht einmal, was. - Und genau das war es. Vielleicht war es das Geheimnis der Jugend, das der Steppenprinz endgültig verloren hatte. »Du schuldest mir noch eine Antwort«, sagte Priwinn plötzlich.
Kim sah ihn irritiert an, und der Steppenreiter fuhr mit einer erklärenden Geste fort: »Spätestens morgen früh trennen sich unsere Wege, Kim. Bis dahin muß ich wissen, ob du auf meiner Seite stehst oder nicht.«
»Was für ein Unsinn«, sagte Kim matt. »Selbst wenn ich mich nicht für deinen Kampf entscheide, Priwinn, so bleiben wir doch Freunde. Ich stehe nicht auf der anderen Seite, nur weil ich -«
»Schließt du dich uns an oder nicht?« fiel ihm Priwinn ins Wort. In seiner Stimme war eine solche Kälte, daß Kim gar nichts antwortete, sondern seinen Freund nur fassungslos anblickte.
»Nein«, sagte er schließlich leise.
Priwinn nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet. »Und was willst du tun?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Kim. »Ich werde zurück nach Gorywynn gehen und mit Themistokles sprechen.« Priwinn lachte hart. »Da paßt ihr ja zusammen«, sagte er. »Ein alter Zauberer, der alles vergessen hat, und ein junger Held, der das Kämpfen verlernt hat.«
Kim schwieg. Die Worte taten ihm weh, und er spürte, daß Priwinn sie aus keinem anderen Grund gesprochen hatte als eben dem, weil er ihm weh tun wollte. Aber wußte auch, warum es so war, und er nahm es dem Steppenprinzen nicht übel. Priwinn hatte seinen Vater verloren, und er sah seine Welt Stück für Stück auseinanderbrechen, ohne daß er in der Lage war, etwas dagegen zu tun.
Fast nur um auf ein anderes Thema zu lenken, fragte er: »Wirst du die Bauern mitnehmen?«
»Ich denke, ja«, antwortete Priwinn. »Der Mann hat sich noch nicht entschieden, aber wenn er die Wahrheit sagt, was die Zwerge angeht, dann kann er nicht hierbleiben. In Caivallon ist er sicher. Und später, wenn alles vorbei ist, dann kann er zurückkommen und seinen Hof wieder bewirtschaften.«
Zumindest der letzte Satz klang nicht sehr überzeugt. Und auch Kim war ganz und gar nicht sicher, ob es später noch etwas geben würde, wohin der Bauer zurückkehren konnte.
XVIII
Noch vor Sonnenaufgang des nächsten Tages verabschiedeten sich Bröckchen und Kim von den anderen und machten sich auf Sternenstaubs Rücken auf den Weg nach Gorywynn. Ihr Abschied verlief sehr kalt und in einer Art, die Kim froh sein ließ, als er den Hengst endlich vom Hof herunter und nach Süden lenken konnte. Die Bauersleute, die die ganze Nacht über damit beschäftigt gewesen waren, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken und auf einen hölzernen Karren zu verladen, wichen seinem Blick aus und gaben ihm das Gefühl, ganz allein schuld an dem Unglück zu sein, das ihnen zugestoßen war. Selbst Gorg sagte kein Wort, und Priwinn beschränkte sich darauf, Kim viel Glück zu wünschen und vorzuschlagen, daß Gorg ihn noch zur Sicherheit ein Stück des Weges begleitete. Der Riese stand ganz in ihrer Nähe und mußte die Worte gehört haben, aber er reagierte nicht darauf, und Kim war beinahe erleichtert, daß es so war. Der Gedanke erfüllte ihn mit Schrecken: Er hatte tatsächlich angefangen, sich vor Gorg zu fürchten. So wie Kelhim von einem freundlichen Zaubertier zu einem gefährlichen Ungeheuer geworden war, so wie Rangarig sich von einem gutmütigen Drachen in eine tödliche Gefahr verwandelt hatte, so war auch etwas mit dem Riesen. Es hatte begonnen im gleichen Moment, in dem sie Burg Weltende erreicht und begriffen hatten, daß es die Eisriesen nicht mehr gab. Vielleicht war das Gorgs Art zu sterben, dachte Kim, und er würde, wenn sie sich das nächste Mal sahen, kein warmherziger Riese mehr sein, sondern ebenso verschlagen und gefährlich wie Kelhim, der Bär.