Bis zur Mittagsstunde ritt Kim geradewegs nach Süden, wie es ihm Priwinn geraten hatte, ehe er endlich auf eine Straße stieß. Er bog, weiterhin Priwinns Rat folgend, nach rechts ab und ritt eine weitere Stunde, bevor er die erste Rast einlegte. Die Bauern hatten ihm keine Vorräte mehr mitgeben können, weil Bröckchen sie ratzekahl aufgefressen hatte, aber Kim fand genug Früchte und Beeren, um satt zu werden, und auch Bröckchen verschwand für eine Weile im Wald und rülpste so lautstark und unanständig nach seiner Rückkehr, daß Kim nicht fragen mußte, ob es etwas zu fressen gefunden hatte.
Sie waren eine weitere Stunde unterwegs, als Kim weit vor sich am Horizont eine Staubwolke gewahrte, die rasch heranwuchs und zu einer Gruppe von mindestens zwanzig, wenn nicht dreißig bewaffneten Reitern wurde, die in raschem Tempo herangaloppiert kamen. Ihr Anblick beunruhigte Kim, aber es war zu spät, um umzukehren und darauf zu hoffen, daß die Reiter ihn nicht gesehen hatten. Zudem hatte er eigentlich nichts zu befürchten. So zügelte er Sternenstaub und wartete, bis die Reiter heran waren und ebenfalls anhielten.
Die Gruppe war weitaus größer, als er geglaubt hatte - mehr als vierzig Mann, und alle bis an die Zähne bewaffnet. Es waren einige Ritter darunter, die auf gepanzerten Pferden saßen, und der Mann an ihrer Spitze trug eine silbern schimmernde, kantige Rüstung, die nur sein Gesicht freiließ und ihm eine fast unheimliche Ähnlichkeit mit einem Eisenmann verlieh.
»Wer bist du?« fragte er Kim unfreundlich, nachdem er sein Pferd dicht an Sternenstaub herangedrängt hatte. Der Hengst begann nervös zu tänzeln und wollte ausbrechen, und Kim mußte all seine Kraft aufwenden, um ihn im Zaum zuhalten.
Kim nannte seinen Namen, aber im Gesicht des Mannes in der silbernen Rüstung war kein Erkennen zu sehen. Kim war beinahe froh darüber. Auch das war etwas, was sich verändert hatte: Er war nicht mehr sicher, ob er in diesem Lande willkommen war.
»Was tust du hier so allein?« fragte der Ritter.
»Ich bin auf dem Weg nach Gorywynn«, antwortete Kim Wahrheitsgemäß.
»Wozu?«
»Ich suche jemanden.«
»So allein?« hakte der Mann mißtrauisch nach. Und als Kim nichts erwiderte, fügte er hinzu: »Ein Junge in deinem Alter sollte nicht allein reiten und schon gar nicht eine so weite Reise unternehmen. Aber wenn du jemanden suchst, so sind wir gleich bei der Sache. Auch wir suchen jemanden. Vielleicht kannst du uns helfen.«
Kim blickte ihn fragend an, und der Ritter maß ihn mit einem nachdenklichen, mißtrauischen Blick, ehe er fortfuhr. »Wir suchen die Aufständischen, die die Bauern überfallen und die Eisenmänner zerstören. Hast du sie zufällig gesehen?«
»Aufständische?« Kim wunderte sich selbst ein bißchen, wie gut er den erstaunten Ton in seiner Stimme zu schauspielern verstand. Er schüttelte den Kopf.
»Es heißt, sie wären in der Gegend gesehen worden«, sagte der Ritter. »Der Riese Gorg, Priwinn, der Sohn des Steppenkönigs, und ein Junge in deinem Alter, der ein furchtbar häßliches Tier bei sich haben soll.«
Das Mißtrauen in seiner Stimme war schärfer geworden, und Kim entging auch keineswegs, daß sich die rechte Hand des Mannes wie zufällig auf den Gürtel senkte, nur einen Fingerbreit neben den Griff des gewaltigen Schwertes, das er darin trug.
»Was versteckst du da unter dem Hemd?«
Kim schickte ein lautloses Dankesgebet zum Himmel, daß es heller Tag war, knöpfte sein Hemd auf und zog mit der linken Hand Bröckchen hervor. Das Wertier, das eingeschlafen war, erwachte mit einem unruhigen Knurren und begann leise vor sich hinzuschimpfen.
Die Augen des Ritters weiteten sich erstaunt. »Was ist das?« fragte er verblüfft.
Kim zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung« behauptete er. »Ich habe es vor ein paar Tagen hier in der Gegend gefunden. Ich glaube, daß es strohdumm ist, aber es ist sehr zutraulich. Und sehr hübsch, nicht wahr?«
»Ja, in der Tat«, meinte der Ritter zögernd. Er musterte Bröckchen lange, dann schüttelte er den Kopf, als hätte er sich in Gedanken eine Frage gestellt und sie gleich selbst beantwortet, und sagte: »Die Beschreibung des Jungen paßt zwar auf dich, aber man hat mir gesagt, daß der Anblick seines Begleiters dazu angetan wäre, einem den Magen herumzudrehen. Nein, ihr seid es nicht.«
Kim mußte sich beherrschen, um nicht erleichtert aufzuatmen. Rasch stopfte er den orange-roten Federball wieder unter sein Hemd, ließ Sternenstaub zwei Schritte zurückgehen und machte Anstalten, weiterzureiten. In diesem Moment wieherte Sternenstaub auf und versuchte auszubrechen, und Kim entdeckte, was den prachtvollen Hengst so in Panik versetzte.
Es war kein Pferd, worauf der Ritter saß. Es ähnelte einem Schlachtroß so wie der Ackergaul des Bauern einem solchen geähnelt hatte, aber was Kim zuerst für einen Panzer aus groben Eisenplatten gehalten hatte, das war in Wirklichkeit die Haut des Geschöpfes. Der Ritter saß auf einem eisernen Pferd.
»Was ist los mit dir, Bursche?« sagte der Mann, als er Kims fassungslosen Gesichtsausdruck sah. »Du kannst weiterreiten.«
»Euer ... Euer Tier«, stammelte Kim, wobei er sein Erstaunen nun nicht mehr zu heucheln brauchte.
»Was ist damit?« fragte der Ritter mürrisch. »Verschwinde, wir sind in Eile.«
Er wollte weiterreiten, aber Kim hielt ihn zurück. »Eine Frage noch, Herr.«
Der Reiter wandte sich mit sichtbarem Unwillen im Sattel um. »Ja?«
»Diese Rebellen, von denen Ihr gesprochen habt«, sagte Kim. »Sind sie gefährlich? Ich meine - muß ich Angst vor ihnen haben?«
»Es ist immer besser, wenn man sich vor Fremden hütet. Merk dir das für die Zukunft«, antwortete der andere kurz gebunden.
»Was werdet Dir mit ihnen tun, wenn Ihr sie faßt?« bohrte Kim weiter.
Der Ritter zuckte mit den Schultern, daß seine Rüstung Wirrte. »Ich weiß zwar nicht, was dich das angeht, Bursche«, sagte er. »Aber wir werden sie vor Gericht stellen. Und eines kann ich dir sagen, ich glaube, ihre Leben werden nicht lang genug sein, daß sie den Schaden in den Erzgruben abarbeiten können.«
Er lachte und wurde übergangslos wieder ernst. »Du bist sehr neugierig, Bursche!«
Noch einmal blickte ihn der silberne Reiter forschend und auf sehr unangenehme Art an, dann schien er endgültig genug zu haben. Mit einem harten Ruck am Zügel ließ er sein eisernes Pferd einen Schritt zur Seite machen und wollte fort, als Unruhe unter seine Begleiter kam.
Kim sah erst jetzt, daß sich zwischen den drei oder vier Dutzend berittenen Männern auch noch eine Anzahl weiterer kantiger Gestalten bewegten. Inmitten all dieser Rüstungen und Waffen und Schilde waren ihm die Eisenmänner bisher gar nicht aufgefallen.
Aber umgekehrt schien der Fall anders zu sein. Kim beobachtete mit klopfendem Herzen, wie einer der Eisenmänner auf den Ritter zutrat und die rechte, geschickte Hand hob. Der Ritter beugte sich im Sattel vor, als wolle er mit der eisernen Gestalt reden. Und obwohl Kim niemals einen der Eisenmänner hatte reden hören und sicher war, daß sie es gar nicht konnten, hatte er plötzlich das unangenehme Gefühl, daß sich die beiden ungleichen Gestalten miteinander verständigten.