»Ich habe Euch jetzt lange genug aufgehalten, Herr«, sagte er eilig. »Ich muß weiter.« Kim drehte Sternenstaub vollends herum und gab ihm die Zügel, aber der silberne Ritter hob rasch die Hand und machte eine befehlende Geste. Einer der anderen Reiter versperrte daraufhin Kim den Weg. Fast gleichzeitig schob sich eine zweite, gepanzerte Gestalt hinter Sternenstaub, so daß der Hengst weder vor noch zurück konnte.
»Warte noch«, gebot der Mann in der silbernen Rüstung-Sein Blick glitt über das ausdruckslose Metallgesicht des Eisenmannes, und auf seinen eigenen Zügen machte sich ein sehr verwirrter Ausdruck breit. Dann drehte er sich sehr langsam im Sattel zu Kim herum und maß ihn noch einmal von Kopf bis Fuß. »Du hast mir noch nicht gesagt, woher du kommst«, sagte er. »Und wen du in Gorywynn suchst.«
»Warum... wollt Ihr das wissen, Herr?« fragte Kim stockend.
»Antworte«, herrschte ihn der Mann an.
Kim sah, wie sich sein Hand wieder dem Schwertgriff am Gürtel näherte.
So gut es Kim auf dem engen Platz, den ihm die beiden Reiter vor und hinter ihm ließen, möglich war, drehte er Sternenstaub noch einmal herum und legte die kurze Entfernung bis zum Ritter zurück. Seine Hand fiel wie zufällig auf den Sattel herab und näherte sich dem Griff des Zwergenschwertes, das er in der Satteltasche verborgen hatte. »Ich bin auf dem Weg zu einem alten Freund meiner Eltern, der in Gorywynn wohnt«, heuchelte er, während er Sternenstaub gleichzeitig noch dichter neben das eiserne Pferd lenkte. Der Hengst gehorchte ihm nur unwillig. Die Furcht, die er vor seinem eisernen Bruder verspürte, war nicht mehr zu übersehen.
»Wie ist der Name dieses Freundes?« erkundigte sich der Ritter.
»Themistokles«, antwortete Kim lächernd. Dann zog er rasch, aber doch ohne Hast das Zwergenschwert aus der Satteltasche, beugte sich blitzschnell vor und stieß es dem eisernen Pferd bis ans Heft in den Hals. Das Eisenpferd brach wie vom Blitz getroffen zusammen und begrub dabei nicht nur seinen Reiter, sondern gleich auch noch den Eisenmann unter sich, der neben ihm gestanden hatte. Zwei, drei Bewaffnete stießen überraschte Schreie aus, und ein Reiter versuchte, Kim von hinten zu packen und aus dem Sattel zu zerren. Kim duckte sich blitzschnell über Sternenstaubs Hals, schwang den Dolch in einem Halbkreis herum, der den Angreifer entsetzt zurückprallen ließ, und riß gleichzeitig mit aller Macht an Sternenstaubs Zügeln. Der Hengst bäumte sich mit einem erschrockenen Wiehern auf die Hinterläufe auf. Kim klammerte sich mit aller Kraft am Sattel und seiner Mähne fest, und irgendwie gelang ihm das Kunststück, nicht nur nicht abgeworfen zu werden, sondern Sternenstaub auch gleichzeitig herumzuzwingen, so daß seine wirbelnden Vorderhufe nun einen weiteren Reiter zurücktrieben, der den Weg hinter ihm blockierte.
Für einen winzigen Augenblick brach unter den Bewaffneten ein heilloses Durcheinander aus. Jedermann schrie und gestikulierte durcheinander, und einige Pferde gerieten in Panik und versuchten auszubrechen. Drei oder vier Männer suchten sich auf Kim zu stürzen, aber ihre eigenen Kameraden und die durchgehenden Pferde behinderten sie so sehr, daß sie kaum von der Stelle kamen. Und Kim nutzte die winzige Chance, die sich ihm bot! Sternenstaubs Vorderhufe hatten kaum wieder den Boden berührt, als er dem Hengst mit aller Kraft die Absätze in die Flanken stieß und das brave Tier einen gewaltigen Satz machte, der ihn vollends aus der unmittelbaren Reichweite der Berittenen brachte. Krachend und splitternd brach sein Pferd durch das dürre Unterholz, das den Weg säumte, und Kim sah, wie die dornigen Zweige seine Haut aufrissen und blutige Kratzer darin hinterließen. Aber Sternenstaub gab nicht einmal einen Schmerzenslaut von sich, sondern griff beinahe ohne Kims Zutun mit gewaltigen Sätzen aus und galoppierte im rechten Winkel von der Straße fort. Kim beugte sich tief über seinen Hals und klammerte sich mit beiden Händen in der Mähne des Tieres fest, um nicht von den peitschenden Zweigen der Büsche, durch die es preschte, getroffen und aus dem Sattel geschleudert zu werden. Gleichzeitig drehte er den Kopf und sah zur Straße zurück. Der Ritter in der silbernen Rüstung war immer noch damit beschäftigt, sich unter seinem zusammengebrochenen Eisenpferd hervorzuarbeiten, aber sechs oder sieben seiner Begleiter hatten ihre Überraschung nun überwunden und setzten zur Verfolgung an. Ihre Pferde mochten nicht ganz so schnell wie Sternenstaub sein, aber sie waren auch nicht sehr viel langsamer. Und anders als Kim trieben sie ihre Tiere rücksichtslos an.
Kim duckte sich noch weiter, als ein Speer in seine Richtung flog. Das Wurfgeschoß verfehlte ihn, aber es bewies, daß seine Verfolger in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich waren. Anscheinend war es ihnen völlig gleich, ob sie ihn heil, verletzt oder gar tot zurückbrachten.
Sternenstaub jagte im gestreckten Galopp die Flanke eines Hügels hinauf und auf der anderen Seite wieder herab, übersprang einen schmalen Bach und schlug einen Haken nach rechts, um Kurs auf eine weite, völlig ebene Grasfläche zu nehmen, die sich vor ihnen auftat. Wenn sie sie erreichten, dachte Kim, dann gab es eine Möglichkeit, davonzukommen. Sternenstaub war ein prachtvolles Tier, das jedem anderen Pferd davongaloppieren würde, wenn es nur Gelegenheit fand, seine überlegenen Kräfte völlig auszuspielen. Ein rascher Blick über die Schulter zurück zeigte Kim allerdings, daß sein Vorsprung im Augenblick eher dahinschmolz. Zwei seiner Verfolger hatten sich vom Rest der Gruppe getrennt und kamen unaufhaltsam näher. Einer der beiden jagte tief über den Hals seines Pferdes gebeugt dahin, der andere hatte sich im Sattel aufgerichtet und schleuderte im Kreis ein Netz über dem Kopf, an dessen Enden kleine Kugern aus Holz oder Metall befestigt waren. Kim wunderte sich noch über den Sinn dieser sonderbaren Konstruktion, da ließ der andere sie schon los, und das Netz verwandelte sich in einen schwirrenden Schatten, der mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zuschoß.
Kim riß seinen Hengst mit einer verzweifelten Bewegung nach links. Das Netz verfehlte ihn um Haaresbreite und landete im Gras, aber der plötzliche Ruck war zuviel für Sternenstaub. Er kam aus dem Tritt, stolperte und fing sich im allerletzten Augenblick wieder, aber als er weiterrannte, da hinkte er spürbar, und der Abstand zwischen Kim und seinen Verfolgern schmolz noch schneller dahin. Trotzdem wäre Kim vielleicht noch entkommen, hätte sich nicht genau in diesem Moment der Boden vor dem Hengst auf getan, um ein halbes Dutzend kleiner, in zerfetzte schwarze Capes verhüllter Gestalten auszuspeien! Sternenstaub prallte mit einem entsetzten Wiehern zurück und stieg auf die Hinterläufe. Kim wurde in hohem Bogen aus dem Sattel geschleudert, überschlug sich zwei-oder dreimal in der Luft und dann noch einmal auf dem Boden, ehe er mit furchtbarer Wucht gegen eine Baumwurzel prallte und halb benommen liegenblieb.
Die beiden Reiter, die ihn verfolgten, rasten von ihrem eigenen Schwung vorwärts getragen an ihm vorbei. Kim versuchte, sich noch einmal aufzurichten. Seine Kräfte reichten jedoch nicht. Er fiel ein zweites Mal, rollte schwer auf die Seite und spürte, wie seine Sinne zu schwinden begannen. Wie durch einen grauen Nebel hindurch sah er die kleinen Gestalten auf sich zutrippeln, flache, schwarze Gespenster in schwarzen Mänteln ohne Gesichter, die ihn umringten und mit dürren, schmutzigen Fingern nach ihm griffen. Dann trat eine der Gestalten ganz an ihn heran, und die Schwärze unter ihrer Kapuze gerann zu einem schmalen Raubvogelgesicht, dessen Augen hart wie Stein glänzten.
»Ich habe dir doch versprochen, daß wir uns wiedersehen, Blödmann«, sagte Jarrn. Und das war das letzte, was Kim für lange, lange Zeit hören sollte.
XIX
Der Sturz mußte schwerer gewesen sein als es Kim vorgekommen war, denn er erinnerte sich hinterher kaum an das, was danach geschah. Ganz verschwommen und nicht einmal sicher, ob es wirklich eine Erinnerung oder nur üble Bilder waren, die ihn quälten, glaubte er, sich eines Streits zwischen Jarrn und dem silbernen Reiter zu entsinnen; einen Streit, in dem es um Kim und sein Schicksal ging. Aber wenn es diesen Streit überhaupt gegeben hatte, so hatte der Zwerg ihn eindeutig gewonnen. Für die folgenden endlosen Stunden, wenn nicht Tage, bestand die Welt, in der Kim nur manchmal fiebernd erwachte, aus nichts anderem als finsteren Stollen und endlosen Höhlen und dem stahlharten Griff des Eisenmannes, der ihn auf den Armen trug. Mehrmals wurde er geweckt, und die Zwerge flößten ihm beinahe gewaltsam Wasser und ein wenig Nahrung ein. Aber es dauerte lange, bis Kim das erste Mal von selbst erwachte, und als er es tat, da spürte er, daß er weit, unendlich weit von jenem Ort entfernt war, an dem er das Bewußtsein verloren hatte.