Dabei stellte seine Umgebung durchaus eine Überraschung für ihn dar. Da Kim wußte, daß er sich in der Gewalt der Zwerge befand, nahm er an, in eine finstere Höhle oder gar ein Verlies geraten zu sein. Aber statt dessen lag er auf einem breiten, überraschend weichen Bett, das sich in einem Zimmer mit durchaus üblichen Möbeln zu befinden schien. Allerdings waren - abgesehen von dem Bett - sämtliche Möbel viel zu klein. Auch hatte das Zimmer zwar eine Tür, aber kein Fenster. Das Licht kam von einer schon fast heruntergebrannten Fackel, die in einem kunstvoll geschmiedeten Halter direkt neben der Tür hing. Die Wand darüber war rußgeschwärzt.
Kim richtete sich behutsam auf seinem Lager auf, hob die Hand und betastete seinen Kopf. Er fühlte einen frischen, straff angelegten Verband und einen leichten Schmerz, woraufhin er die Finger hastig wieder zurückzog.
Vorsichtig schwang er die Beine vom Bett, setzte sich auf und sah sich blinzelnd um. Das flackernde Licht der Fackel, so blaß es war, tat seinen an die lange Dunkelheit gewöhnten Augen weh, und wenn er sich zu hastig bewegte, dann erwachte in seinem Kopf ein hämmernder Schmerz, als säße auch dort ein winziger Zwerg und schlüge mit Begeisterung auf einer gewaltigen Kesselpauke herum. Kim fragte sich, wo er war. Gleichzeitig wurde er das unheimliche Gefühl nicht los, diesen Ort zu kennen. Es war - Nein. Er wußte es nicht. Und doch sagte ihm etwas mit unerschütterlicher Sicherheit, daß dies nicht die Zwergenhöhlen in den östlichen Bergen waren, vielmehr ein Ort, an dem er sich nicht das erste Mal aufhielt.
Dieser Gedanke zog einen anderen und, wie Kim meinte, im Moment sehr viel wichtigeren nach sich. Nämlich den, wie er hier je wieder herauskommen sollte. Mit einer entschlossenen Bewegung stand er auf, wankte einen Moment stöhnend hin und her, als das dumpfe Dröhnen zwischen seinen Schläfen zu neuer Wut erwachte, und wartete, bis das heftige Schwindelgefühl, das die Paukenschläge in seinem Kopf begleitete, wieder verklungen war. Dann ging er zur Tür, streckte die Hand nach dem schweren, geschmiedeten Griff aus und rüttelte daran.
»Daran kannst du zerren, bis du schwarz bist«, sagte eine mürrische Stimme hinter ihm. »Der Riegel ist aus Zwergenstahl. Den zerbricht nichts.«
Kim drehte sich überrascht herum und erblickte einen kleinen, häßlichen, stacheligen Ball, der unter dem Bett hervorgekrochen kam und ihn aus zwei hervorquellenden Triefaugen anstarrte.
»Ich habe schon gedacht, du wachst überhaupt nicht mehr auf«, maulte Bröckchen.
Kim empfand eine tiefe Erleichterung, den kleinen Gefährten zu erblicken. »Wo sind wir hier eigentlich gelandet?« fragte er.
Bröckchen trippelte vollends unter dem Bett hervor und sprang mit einem Satz auf den Tisch hinauf, der wenig höher als Kims Knie war. »Bei richtig netten Leuten«, antwortete Bröckchen spöttisch.
»Wie?« machte Kim verwirrt.
Bröckchen nickte so heftig, daß sich seine Stacheln bewegten wie die eines Seeigels im stürmischen Meer. »Glaub mir«, behauptete er. »Sie sind so gastfreundlich, daß sie uns gar nicht wieder weglassen wollen.«
Kim runzelte die Stirn, verzichtete aber vorsichtshalber auf eine Antwort und sah sich erneut und mit größerer Aufmerksamkeit in der kleinen Kammer um. »Ich kenne diesen Ort«, murmelte er. »Das sind nicht die Zwergenhöhlen.«
»Das hat ja auch keiner behauptet, oder?« schnappte Bröckchen. »Aber keine Sorge - Zwerge sind genug hier. Sogar ein paar mehr, als dir recht sein dürfte.«
Kim ging zum Bett zurück und setzte sich. Hinter seiner Stirn wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Nicht zum erstenmal hatte er das Gefühl, der Antwort auf alle Fragen ganz nahe zu sein, sie beinahe greifen zu können. Und nicht zum erstenmal entschlüpfte sie ihm wie ein Fisch im Wasser, als er sie wirklich packen wollte.
»Wie lange sind wir schon hier?« fragte er.
»Och«, meinte Bröckchen. »Das läßt sich hier unten schwer sagen. Hunger habe ich jedenfalls, als wären wir eine Woche hier.«
Trotz des Ernstes ihrer Lage mußte Kim lächeln. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was Bröckchen zu den Portionen sagte, die Zwerge zu sich nahmen. »Haben sie dich gut behandelt?« erkundigte er sich.
»Ja«, knurrte Bröckchen. »Abgesehen von der Tatsache, daß sie mich offenbar verhungern lassen wollen.«
Auf der anderen Seite der Tür wurde rasselnd ein Riegel zurückgeschoben, und einen Moment später betraten drei Zwerge und die kantige Riesengestalt eines Eisenmannes die Kammer. Kim suchte nach einem bekannten Gesicht unter den schwarzen Kapuzen, entdeckte aber keines. Die Zwerge schienen kein bißchen überrascht, daß er wach auf der Bettkante saß und nicht mehr wie bisher bewußtlos im Bett lag. Offensichtlich hatten sie ihn die ganze Zeit über beobachtet. »Komm mit!« befahl einer der Gnome mit schriller Stimme. Er unterstrich seinen Befehl mit einer herrischen Geste, und als Kim nicht gleich Anstalten machte, vom Bett aufzustehen, da machte der Eisenmann auch schon einen drohenden Schritt auf ihn zu, daß Kim hastig aufsprang. »Wohin bringt ihr mich?« fragte er, als er mit Bröckchen die Kammer verließ.
»Zu unserem König«, antwortete der Zwerg, der schon einmal mit ihm gesprochen hatte. Er lachte meckernd. »Er freut sich schon darauf, dich zu sehen. Ich hoffe, du hast dich gut ausgeschlafen. Du wirst dein bißchen Grips nämlich bitter nötig haben, um deinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.«
Kim blieb überrascht stehen, ging aber dann schnell weiter, als der Eisenmann drohend seine linke schaufelbewehrte Hand hob. »Was meinst du damit?« erkundigte er sich. »Man wird über dich zu Gericht sitzen.«
»Zu Gericht?« Kim war völlig verwirrt. »Aber was habe ich denn getan?«
»Das wird man dir schon früh genug sagen«, meckerte der Zwerg. »Geh schneller. Wir haben lange genug darauf gewartet, daß du endlich ausgeschlafen hast.«
Zutiefst verwirrt, beschleunigte Kim tatsächlich seine Schritte, zumal der Eisenmann mit einem derben Stoß den Worten des Zwerges noch Nachdruck verlieh. Zu Gericht sitzen? staunte er. Über ihn?
Indessen gingen sie einen langen, fensterlosen Gang entlang, dessen Wände nicht aus Felsgestein, sondern aus sorgsam aufeinandergesetzten, schwarzen Quadern bestanden. Hier und da zweigte eine halbrunde Tür aus gewaltigen Eichenbohlen nach rechts oder links ab, und in regelmäßigen Abständen brannten Fackeln an den Wänden, die den Gang mit unheimlichem, rotem Licht erfüllten. Sie gingen eine Treppe hinab und gelangten in einen gleichartigen, aber in die entgegengesetzte Richtung führenden Korridor, und Kim fiel auf, daß sowohl die Türen als auch die Höhe der Treppenstufen durchaus nicht dem Zwergen-inaßstab entsprachen, sondern von üblicher Größe waren, irgendwo entdeckte er ein Fenster, obwohl etliche Türen offenstanden und er im Vorübergehen einen Blick in die dahinterliegenden Räume werfen konnte. Dieses Bauwerk, das die Ausdehnung einer Burg zu haben schien, mußte sich entweder unter der Erde befinden - oder es war völlig ohne Fenster erbaut worden, und das erschien Kim absolut widersinnig. Bis er sich mit einem Schlag daran erinnerte, daß er schon einmal in einer Burg aus schwarzem Stein gewesen war, deren Wände keine Fenster hatten!