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Diese Erkenntnis traf ihn mit solcher Wucht, daß er mitten im Schritt stehenblieb und erschrocken keuchte.

»Was ist los?« erkundigte sich der Zwerg mißtrauisch. »Versuch keine Tricks, Bursche!«

»Morgon!« flüsterte Kim. »Das ... das ist die Festung Morgon!«

»Ach ja?«

Noch bevor Kim seiner Verblüffung weiteren Ausdruck verleihen konnte, versetzte ihm der Eisenmann einen so harten Stoß zwischen die Schultern, daß er ein paar Schritte weitertorkelte und gestürzt wäre, hätte er sich nicht im letzten Moment an der Wand festgehalten. Und als seine Finger den schwarzen Stein berührten, da schwanden auch seine letzten Zweifel. Diese unheimliche, körperlose Kälte und die bis in die Seele dringende Finsternis, die hatte er schon einmal gespürt. Es gab keinen Zweifel - das hier war Morgon, die Burg, über die der schwarze Zauberer Boraas geherrscht und von der aus er seinen Angriff auf Märchenmond geführt hatte.

Jetzt, da er wußte, wo er war, erkannte Kim auf Schritt und Tritt alles wieder: Sie benützten die gewendelte, scheinbar endlose Treppe aus schwarzem Fels, auf der seine Flucht damals begonnen hatte, durchquerten mehrere Säle, die sich in all der Zeit nicht verändert zu haben schienen, und traten schließlich auf einen der überdachten Wehrgänge hinaus.

Es war Nacht. Ein eisiger Wind heulte um die Zinnen und ließ Kim frösteln. Der Burghof lag wie ein schwarzer, bodenloser Abgrund unter ihm, und doch glaubte er, Bewegung darauf zu erkennen. Große, kantige Gestalten stapften hin und her, und roter Feuerschein fiel flackernd aus offenen Türen und von den Schießscharten.

Als sie den Wehrgang verließen und die Festung wieder betraten, da wurde Kim zu seiner Überraschung nicht nach unten geführt, wo er Boraas' alten Thronsaal wußte, sondern im Gegenteil eine steile Treppe aus schwarzem Fels weiter hinauf in die Höhe. Und als sie die Tür an ihrem Ende erreichten, da schien Kims Herz vor Schreck einen Schlag zu überspringen und dann doppelt heftig und so hart weiterzuhämmern, daß es weh tat. Er wußte, was hinter dieser Tür lag. Und hätte er auch nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit gehabt, auf dieses Wissen zu reagieren, dann wäre er herumgefahren und hätte zu fliehen versucht, ungeachtet der Zwerge und des Eisenmannes hinter ihm, dessen Klaue zum Zupacken bereit war. Aber soviel Zeit blieb ihm nicht, denn die Tür schwang wie von Geisterhand bewegt vor Kim auf, und im gleichen Augenblick versetzte ihm der Eisenmann einen Stoß, der ihn hilflos hindurchtaumeln und dahinter auf die Knie fallen ließ. Kim senkte entsetzt den Blick und schloß die Augen. Er wußte, wo er war. Dies war der Turm, in dem der schwarze Spiegel hing, der Quell allen Übels und alles Bösen in Märchenmond, jenes furchtbare Ding, das schon einmal fast zum Untergang des Zauberreiches geführt hatte. Ein einziger Blick in ihn, und er war verloren.

Reglos hockte Kim da und lauschte auf das rasende Hämmern seines Herzens. Dann sagte eine meckernde, wohlbekannte Stimme: »Du hast jetzt lange genug vor mir gekniet, Bengel. Steh auf!«

Kim rührte sich nicht. Er war verloren, wenn er auch nur die Augen öffnete. Ein einziger Blick in den riesigen Spiegel, der an der Wand gegenüber der Tür hing, und er würde sich selbst in den schlimmsten Feind dieser Welt und ihrer Bewohner verwandeln! »Ich glaube, unser Gast ist noch ein bißchen müde!«, fuhr die meckernde Stimme fort. »Vielleicht hilft ihm jemand, aufzustehen.« Fast im selben Moment fühlte sich Kim von einer mächtigen, eisenharten Hand am Arm gepackt und so kräftig in die Höhe gerissen, daß er einen Schmerzensschrei ausstieß und unwillkürlich die Augen öffnete.

Und ohne daß er irgend etwas dagegen tun konnte, fiel sein Blick auf die gegenüberliegende Wand.

Sein Herzschlag stockte diesmal wirklich. Für einen unendlich kurzen, furchtbaren Augenblick wartete Kim darauf, daß er sich verwandelte, daß sein Spiegelbild zu düsterem Leben erwachte und Tod und Vernichtung über die Bewohner Märchenmonds brachte. Aber es geschah nichts. Der schwarze Spiegel verwandelte ihn nicht, und er konnte es auch gar nicht, denn er war nicht mehr da. Wo er gehangen hatte, da zeigte sich Kims Blicken jetzt eine gewaltige, sanft gekrümmte Glasscheibe von lindgrüner Farbe, die an ihren vier Ecken abgerundet war. Flimmernde Streifen aus verschiedenfarbigem Licht huschten über das grüne Glas, und manchmal glaubte er, verwirrende Buchstaben in einer verschnörkelten, ihm unbekannten Schrift zu erkennen, die aber so schnell erloschen, daß er sie nicht genau sehen konnte. Der Spiegel war verschwunden, und an seiner Stelle erhob sich jetzt etwas wie die ins Riesenhafte vergrößerte Abbildung eines - »Hierher, geehrter Gast«, meckerte die spöttische Stimme in seine Gedanken. »Wenn du vielleicht die Güte hättest, uns deine geschätzte Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, wären wir überglücklich.«

Kim riß seinen Blick mühsam von der grünen Glasscheibe los und gewahrte Jarrn, der zusammen mit einem Dutzend anderer Zwerge an einem gewaltigen Tisch aus schwarzem Holz hockte. Der Tisch und die dazugehörigen Stühle stammten offensichtlich noch von den früheren Bewohnern dieser Festung, denn beides hatte nicht die für Zwerge passende Größe. Jarrns Füße baumelten einen guten halben Meter über dem Boden, und die Tischplatte hätte 1hrn und seinen Brüdern gut als Tanzfläche dienen können. Doch hatte der Anblick absolut nichts Lächerliches an sich. Ganz im Gegenteil - Kim spürte plötzlich die Bedrohung, die von den schwarzgekleideten Zwergen ausging. Mißmutig blickte er Jarrn an. »Was soll das?«

»Oh«, sagte Jarrn mit gespielter Überraschung. »Hat man es dir nicht gesagt, mein Freund? Wir sitzen über dich zu Gericht.«

»Ich wüßte keinen Grund«, antwortete Kim.

»Den wirst du schon noch erfahren.«

Allmählich schwoll Kim die Zornesader, nun, da er seinen Schrecken überwunden hatte. Herausfordernd trat er auf Jarm zu und blieb erst stehen, als der Eisenmann drohend die Hand hob. »Ich verlange eine Erklärung!« sagte er. »Wieso hat man mich überfallen und hierher gebracht? Und was soll dieser Unsinn, daß ihr Gericht über mich halten wollt? Du wirst mir sagen, was das alles zu bedeuten hat. Oder - besser noch«, er deutete auf den Zwerg, der ihn hier herauf gebracht hatte, »dieser Zwerg sagte, euer König wäre hier. Ich verlange, zu ihm gebracht zu werden.«

Jarrn kicherte. »Dein Wunsch ist mir Befehl«, sagte er und stand auf. Er versuchte es jedenfalls, doch er schien vergessen zu haben, daß er auf einem für ihn zu großen Stuhl saß. So plumpste er schlagartig einen halben Meter in die Tiefe, wobei sein Kinn unsanft auf die Tischkante schlug. Fluchend klammerte er sich an den Lehnen des geschnitzten Sessels fest, krabbelte umständlich wieder auf die Sitzfläche hinauf und starrte Kim an, als mache er ihn persönlich für sein Ungeschick verantwortlich. Kim seinerseits hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Aber es gelang ihm, zumal er sehr sicher war, daß Jarrn im Augenblick noch weniger Sinn für Humor hatte als ohnehin.

»Also«, knurrte Jarrn feindselig. »Ich bin da. Was willst du wissen?«

Eine geraume Weile verging, bis Kim sich der Bedeutung dieser Worte bewußt wurde. »Du?« staunte er. »Du bist der König?«

»Wenn du gestattest, ja«, schnarrte Jarrn, verzog das Gesicht und spuckte ein blutiges Stück eines abgebrochenen Zahnes aus.

Kirn überwand seine Überraschung schnell. »Um so besser«, sagte er. »Dann wirst du mir erklären können, was das alles zu bedeuten hat. Wieso entführt ihr mich? Wieso verfolgt ihr mich, seit ich in Märchenmond bin?«

Jarrns Augen wurden schmal. »Vielleicht weil du in Märchenmond bist«, antwortete er.

»Aber -«

Der Zwerg schnitt ihm mit einer zornigen Bewegung das Wort ab. »Genug!« sagte er streng. »Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als meine Zeit mit dir zu vertrödeln, Dummkopf. Die Verhandlung ist eröffnet!«