Kim zog es vor, nicht darauf zu antworten. Er hatte das sehr sichere Gefühl, daß er Jarrn im Moment nur wütend machen würde, ganz egal, was er sagte.
Jarrn zog mit zusammengebissenen Zähnen auch noch die letzten Stacheln aus seinem Gesicht, fuhr sich mit den Händen über die Wangen und betrachtete anschließend ärgerlich stirnrunzelnd das Blut, das an seinen Fingerspitzen klebte. Der Blick, mit dem er Kim danach musterte, versprach nichts Gutes.
»Lach ruhig, wenn dir danach ist«, grollte Jarrn beleidigt. »Es wird sowieso für lange Zeit das letzte Mal sein, daß du etwas zu lachen hast, Blödmann.«
Er machte einen zornigen Schritt rückwärts, stolperte über den Saum seines eigenen Mantels und landete unsanft auf dem Hosenboden. Aber das Lachen, das Kim bei diesem Anblick in der Kehle emporstieg, blieb ihm im Halse stecken, als er den Ausdruck auf dem Gesicht des Zwergenkönigs gewahrte.
Jarrn rappelte sich schimpfend wieder hoch und machte eine zornige Geste, woraufhin der Eisenmann jäh wieder aus seiner Erstarrung erwachte und Kim unsanft in die Höhe riß. »Bring ihn weg!« befahl Jarrn. »Schaff ihn zu diesen anderen Bälgern, wo er hingehört!«
Der Eisenmann wandte sich gehorsam um und zerrte Kim dabei mit sich, aber da machte Jarrn eine Bewegung und hielt ihn noch einmal zurück. »Noch eines, Bengel!«, sagte er haßerfüllt. »Freu dich nur nicht zu früh. Selbst wenn deine Freunde hierher kommen sollten, was sie bestimmt nicht tun, nur um einen Blödmann wie dich zu retten, dann wird dir das nichts nützen.« Er lachte böse. »Du wolltest doch das Geheimnis unserer Schmieden kennenlernen? Nun, das wirst du. Du wirst darin arbeiten, genau wie diese anderen Bälger. Du wirst für den Schaden aufkommen, den du angerichtet hast. Du wirst alles bezahlen, und zwar auf Heller und Pfennig, das schwöre ich dir.«
Bevor die Nacht zu Ende ging, verließen Kim und die anderen Kinder die Festung Morgon. Zuvor aber brachte man sie in eine kleine, stickige Schmiede, in der die Funken tanzten, rund um die flackernden Feuerstellen. Dort wurden sie aneinandergekettet: Ein wuchtiger Ring aus Eisen wurde an Kims rechtem Fußgelenk befestigt, und durch die Öse, die sich daran befand, wurde eine lange Kette gezogen. Sie erschien Kim im ersten Moment geradezu lächerlich dünn, aber er entsann sich, was Jarrn ihm in der Höhle der Flußleute darüber erzählt hatte, und so versuchte er erst gar nicht, die Kette aus Zwergenstahl zu zerreißen, obwohl ihre einzelnen Glieder kaum dicker als ein Bindfaden waren. Währenddessen versuchte Kim, mit den anderen Kindern ins Gespräch zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Fast alle wirkten teilnahmslos und beinahe so, als befänden sie sich in einer Art Trance. Einzig der Junge, der schon vorhin an den Stäben des Güterwagens gerüttelt hatte, schien wach und in der Lage, etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Aber entweder verstand er Kims Sprache nicht oder er wollte nicht antworten, denn seine einzige Reaktion auf Kims Fragen bestand aus zornigen Blicken und einer drohenden Bewegung mit der Faust, als Kim ihm zu nahe kam.
So aneinandergekettet verließen sie Burg Morgon in dem Käfigwagen, der mit ihnen aus dem Schloßhof rumpelte. Zwei Zwergenkutscher lenkten das schreckliche Gefährt den schmalen Serpentinenpfad bis in die Ebene hinab. Ein Eisenmann, der mit schweren Schritten hinter dem Wagen einherstampfte, ließ jeden Gedanken an Flucht oder Widerstand gleich im Keim ersticken.
So fuhren sie durch die finsteren Wälder, die Morgon wie ein verfilzter, natürlich gewachsener Festungswall umgaben, dann hielten sie an. Auf einen Wink des Zwerges hin öffnete der Eisenmann den Käfig und befahl den Insassen mit einer groben Geste, auszusteigen.
Aus dem Dickicht heraus trat ein weiterer Eisenmann. Die stählernen Kolosse ergriffen die beiden Enden der Kette, mit denen die Fußringe der Kinder miteinander verbunden waren, und zerrten ihre Gefangenen grob durch das stachelige Unterholz, bis sie zu der Ruine eines verfallenen Festungsturmes gelangten, die sich mitten im Wald erhob. Eine sonderbare Art von Angst beschrieb. Kim, als er sah, wie der erste Eisenmann mit den Gefangenen vor ihm langsam in der Schwärze des Tores verschwand. Es war die gleiche, entsetzliche Schwärze, wie Kim sie erlebt hatte, als sie in der Eisigen Einöde in die Höhle hinabgestiegen waren, zu der Jarrn sie geführt hatte - wieder war das, was vor ihm lag, nicht einfach Dunkelheit, sondern es schien, als tauchten sie in einen schwarzen, lichtfressenden See, der ihre Körper wie auch ihre Seelen verschlang. Als Kim an der Reihe war, den Turm zu betreten, da spürte er wieder jenes unheimliche Schaudern, das ihn schon beim Höhleneinstieg nahe Burg Weltende erfaßt hatte. Doch Kim wußte, was er dort erlebt hatte, das war nicht das ungeteilte Reich der Zwerge gewesen, ebensowenig wie Burg Morgon. Jarrn und sein halbverrückter Anhang mochten die verlassene Festung zu ihrem Sitz erkoren haben, weil sie an einem unzugänglichen Ort lag und leicht zu verteidigen war, und weil es darüber hinaus niemanden mehr gab, der Anspruch auf sie erhoben hätte. Hier - erst das hier war ihr ureigenstes Reich.
Der Turm hatte keinen Boden. Unmittelbar hinter der Tür begann eine steile, zuerst aus festgestampftem Lehm, und nach wenigen Stufen aus dem natürlich gewachsenen Fels des Bodens herausgemeißelte Treppe, die in endlosen Windungen tiefer und tiefer und immer tiefer in die Erde hinabführte. Es gab kein Licht, nur den unheimlichen grauen Schimmer, je weiter sie nach unten stiegen, an den sich Kims Augen erst gewöhnen mußten. Da erkannte er die unheimliche Verwandlung, die hier vorging: Mit dem Eintritt in die düstere Welt der Zwerge schienen die aneinandergeketteten Kinder vor ihm zu verblassen, gleichsam zu flachen, fast körperlosen Gespenstern zu werden, die sich mit unwirklicher Lautlosigkeit bewegten.
Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Kim hatte versucht, die Stufen zu zählen, es aber bald wieder aufgegeben. Irgendwann hörte er überhaupt auf, an irgend etwas zu denken. Er brauchte jedes bißchen Kraft allein dafür, einen Fuß vor den anderen zu setzen und all die Stufen zu bewältigen, die hinabführten.
Die Treppe endete in einer kreisrunden Höhle, von deren Decke Wasser tropfte und in deren Wänden sich zahllose Löcher und Öffnungen befanden. Aus vielen davon drang flackernder, roter Feuerschein, und er hörte das Hämmern und Klingen von Werkzeugen und schreckliche, knarrende, dröhnende Geräusche. Kims Knie zitterten, und er fühlte sich so schwach, daß er mit aller Macht darum kämpfen mußte, nicht auf der Stelle zusammenzubrechen. Auch die anderen Gefangenen wankten vor Erschöpfung, aber die beiden eisernen Wächter trieben sie unbarmherzig vorwärts. Grob zerrten sie die Kinder durch die Höhle und auf eines der Felslöcher oder Durchgänge zu, die vom glühenden Licht erfüllt waren. Dahinter öffnete sich ein gewaltiger unterirdischer Saal. An buchstäblich Tausenden von Feuern wurde hier geschmiedet und gehämmert, daß die Funken stoben, Stahl und weißflüssiges Eisen zischten, zahllose Gestalten bewegten sich hin und her, schleppten große Erzbrocken oder Körbe voller Holzkohle und taten hundert andere Dinge an hundert verschiedenen Orten, die Kim gar nicht alle zugleich erfassen konnte.
Aber eines fiel ihm auf den ersten Blick auf, so niedergeschlagen und erschöpft er auch war - nur die allerwenigsten, die hier arbeiteten, waren Kinder. Der allergrößte Teil der geschäftigen Gestalten lief auf winzigen, spindeldürren Beinen und trug zerfetzte, schwarze Umhänge. Nur hie und da sah Kim jemanden, der ihm und seinen Leidensgenossen glich, diese wenigen aber schienen ausnahmslos mit den schwersten körperlichen Arbeiten betraut zu sein.