Wenn all die verschwundenen Kinder aus Märchenmond im Zwergenreich waren, dann nicht in diesem Teil der Höhlen. Sie wurden weitergezerrt, und es dauerte nicht lange, da fand sich Kim selbst an einem der lodernden Schmiedefeuer. Er hatte einen gewaltigen Blasebalg zu bedienen, der die Flammen zu immer hellerer Glut entfachte. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihm irgend etwas zu erklären. Und niemand machte sich die Mühe, ihn zu bewachen oder seine Arbeit zu beaufsichtigen. Die Kette an seinem Fuß wurde an einen gewaltigen Felsbrocken angeschlossen, so daß er gerade zwei Schritte in jede Richtung tun konnte, und wenn er den Blasebalg nicht kräftig genug bediente, so fuhr ihn sein Arbeitsgenosse - ein Zwerg - auf der anderen Seite des Schmiedefeuers an und beschimpfte ihn. Kims Mitgefangene wurden an mehreren Stellen des riesigen Saales aufgeteilt, wo ihnen verschiedene Arbeiten zugewiesen wurden.
Und so verging der erste von vielen Tagen, die Kim in den unterirdischen Schmieden der Zwerge zubrachte. Er bediente an jenem Tag den Blasebalg, bis er glaubte, auch beim besten Willen seine Arme nicht mehr heben zu können. Die Zwerge aber arbeiteten unermüdlich weiter, und wenn Kim zu langsam wurde, so erschien einer der Eisenmänner und half den keifenden Befehlen des Zwergenschmiedes mit groben Stößen nach. Als Kim endlich losgekettet und fortgebracht wurde - seinen Platz am Blasebalg nahm sofort ein anderer Gefangener ein und die Arbeit wurde ohne Unterbrechung fortgesetzt - da war Kim so müde, daß er kaum noch mitbekam, wohin man ihn brachte. Zurück in den kreisrunden Raum mit den zahllosen Öffnungen ging es und von dort in eine andere, wesentlich kleinere Höhle, wo er neben einem dürftigen Lager aus nassem Stroh an den Boden gekettet wurde. Er war so müde, daß er auf der Stelle einschlief und nicht einmal bemerkte, wie die Zwerge erschienen und den Gefangenen ein kärgliches Mahl brachten.
Kim schlief wie ein Stein in dieser Nacht und ohne zu träumen, aber als er am nächsten Morgen wachgerüttelt wurde, da hatte er das Gefühl, die Augen gerade erst zugemacht zu haben. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper schmerzte, und der Zwerg, der ihn weckte, mußte mit mehreren derben Kniffen und Stößen nachhelfen, damit Kim sich überhaupt von seinem Lager aufraffte. Sein Magen knurrte, und er hatte entsetzlichen Durst. Aber als er das dem Zweig sagte, lachte dieser nur und erklärte, Essen hätte es am vergangenen Abend gegeben, und wenn er hungrig sei, so müsse er sich schon gedulden, bis er gearbeitet und sich sein Essen für diesen Tag verdient hätte.
Er wurde nicht wieder an den Blasebalg geführt, sondern bekam die Aufgabe zugeteilt, Holzkohle in großen, geflochtenen Körben zu den einzelnen Feuern zu tragen. Schon nach kurzer Zeit war Kim mit seinen Kräften am Ende, aber es gab kein Erbarmen: Je lauter er sich beschwerte, desto größer wurden die Körbe, die er zu tragen hatte, und je langsamer er wurde, desto mehr trieb man ihn an.
Kim erinnerte sich hinterher nicht, wie er das Kunststück fertiggebracht hatte, diesen Tag zu überleben. Irgendwann hatte er wohl einen Zustand der Erschöpfung erreicht, in dem er einfach weiterarbeitete, ohne selbst noch zu spüren, was er tat. Und irgendwann, nach hundert Ewigkeiten, war es vorbei, und er wurde wieder zurück in die Felsenkammer gebracht und neben seiner Schlaf statt angebunden. Obwohl er noch müder und erschöpfter war als am Tag zuvor, hielt er sich an diesem zweiten Abend mit Gewalt wach, denn sein Magen schmerzte mittlerweile vor Hunger, und er spürte, daß er jedes bißchen Essen brauchen würde, das er bekommen konnte.
Es war wenig genug, was die Zwerge brachten. Und es schmeckte abscheulich. Aber Kim zwang sich, den unappetitlichen, grauen Brei aufzuessen und bat sogar um einen Nachschlag, worauf die Zwerge allerdings nur gehässig lachten.
Als er sich auf sein Lager zurücksinken ließ, sah Kim sich zum erstenmal aufmerksam um. Der Raum war weit nicht so riesig wie die daneben liegende Schmiede, aber immer noch groß genug, um Dutzende von Strohlagern zu beherbergen. Die Gefangenen hier waren zumeist Jungen und Mädchen in Kims Alter, aber auch einige kleinere Kinder. Die meisten schienen ebenso erschöpft und am Ende ihrer Kräfte wie Kim, denn sie waren eingeschlafen, kaum daß sie ihren Brei hinuntergewürgt hatten. Einige aber saßen noch auf ihren Lagern und unterhielten sich mit leiser Stimme. Kim fing einige Wortfetzen auf, ohne wirklich zu verstehen, was geredet wurde.
Dann entdeckte er den Jungen, der zusammen mit ihm irrt Gitterwagen hierhergebracht worden war. Er saß nicht weit entfernt, hatte die Beine an den Körper gezogen und die Arme um die Knie geschlungen, und obwohl er Kim unvermittelt ansah, schien sein Blick ins Leere zu gehen. Kim lächelte ihm zu, aber auf dem Gesicht des anderen zeigte sich nicht die mindeste Reaktion. Es war, als hätte er es gar nicht bemerkt.
»Wo kommst du her?« fragte ihn Kim.
Der Junge hob den Kopf und sah ihn erstaunt an. Kim mußte seine Worte noch zweimal wiederholen, ehe er eine Antwort gab.
»Aus dem Westen«, sagte der Junge schließlich. »Meine Eltern hatten einen Hof, drei Tagesritte westlich von Gorywynn.«
»Sie hatten?« fragte Kim. »Wie meinst du das?«
Der Junge blickte ihn schweigend an. Im ersten Moment hielt Kim den Ausdruck in seinen dunklen Augen für Zorn; dann begriff er, daß es eine tiefe, bohrende Verzweiflung war.
»Die Rebellen«, murmelte er nur..
Kim wurde hellhörig.
»Königs Priwinns Steppenreiter«, stieß jetzt der Junge hervor. Seine Stimme klang haßerfüllt. »Hast du noch nie von ihnen gehört?«
Kim nickte. Offensichtlich wußte der Junge nicht, wer er war. Und es war wohl im Moment besser, wenn es dabei blieb. »Ich habe von ihnen gehört«, meine Kim vorsichtig. »Sie ... sie kämpfen gegen die Eisenmänner und gegen die Zwerge, nicht wahr?«
»Gegen die Zwerge?« Der Junge lachte bitter. »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie gegen meinen Vater gekämpft haben, und dessen Bruder und unsere Knechte.«
»Priwinns Reiter?« fragte Kim zweifelnd. »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
»Dann laß es«, sagte der Junge unfreundlich und senkte wieder den Blick.
»Bitte entschuldige«, begann Kim wieder. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber ich habe gehört, daß sie niemandem etwas zuleide tun, sie zerstören doch nur die Eisenmänner.«
Der Junge sah mit einem Ruck auf. »Dann hast du etwas Falsches gehört!« meinte er böse.
Kim schwieg eine Weile. Der Schmerz des Jungen tat ihm weh. Er fühlte sich dafür verantwortlich, und sei es nur, weil es ihm nicht gelungen war, Priwinn von seinem Vorhaben abzubringen.
»Was ist denn geschehen?« fragte er nach einer Weile leise. Der Junge starrte weiter ins Leere, und Kim fand sich schon damit ab, daß er keine Antwort erhalten würde, aber dann begann der andere doch mit leiser, zitternder Stimme zu erzählen.
»Wir haben gehört, daß sie in der Nähe waren«, begann er. »Sie haben ein Heer aufgestellt, mußt du wissen. Sie ziehen plündernd und raubend durch das Land, und sie zerstören rücksichtslos alles, was aus Eisen ist. Ohne zu fragen, wem es gehört. Und es heißt, sie werden immer mehr.« Kim dachte an das, was er wie im Zeitraffer in der grünen Glasscheibe erblickt hatte. Wieviel Zeit mußte draußen in Märchenmond schon vergangen sein ...
»Und dein Vater hatte einen Eisenmann?« nahm Kim das Gespräch wieder auf.
»Drei«, antwortete der Junge. »Und ein eisernes Pferd. Im Herbst sollte ein Pflug dazukommen, vor den man kein Pferd mehr spannen muß.«
»Und ihr wolltet sie nicht hergeben«, vermutete Kim. »Hergeben?« Der Junge lachte beinahe hysterisch. »Mein Vater hat den Hof und alles Land verpfändet, um die Eisenmänner und das Pferd kaufen zu können«, er schrie fast. »Unser Hof war schon immer groß, aber das Land dort ist karg, und es kostet viel Mühe und Schweiß, ihm etwas abzuringen. Mein Vater hoffte, mit Hilfe der Eisenmänner mehr aus dem Boden herauszuholen. Aber dann kamen die Steppenreiter. Sie verlangten, daß er die eisernen Männer zerschlüge, und als er sich weigerte, da fielen sie über ihn her, legten ihn in Ketten, und dann zwangen sie ihn zuzusehen, wie sie die Eisenmänner zerstörten.«