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»Und? Worauf seid ihr gekommen?«

Jarrn tat so, als müsse er einen Moment angestrengt überlegen. »Grob geschätzt würde ich sagen, daß du den Schaden vielleicht in fünf- oder sechshundert Jahren abgearbeitet hast«, sagte er. »Die Zinsen natürlich nicht eingerechnet. Aber ich will ja nicht kleinlich sein - sagen wir, daß ich in vierhundert Jahren wiederkomme, und dann sehen wir weiter.«

»Soll das ein Scherz sein? Ich fürchte, ganz so alt werde ich nicht.«

Jarrn lachte nicht mehr. Er sah Kim auf eine Art und Weise an, die ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ. »Da wäre ich nicht so sicher«, sagte er, sehr leise und ernst. »Hier bei uns vergeht die Zeit nämlich nicht, mußt du wissen. Du wirst fünfhundert Jahre hier arbeiten, und auch fünftausend, wenn ich es will. Solange du diese Höhlen nicht verläßt, wirst du nicht altern.«

Kim erstarrte vor Entsetzen. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß der Zwerg die Wahrheit sprach. Er wußte ja schon, daß die Zeit stillstand im Reich der Zwerge. Waren nicht allein Monate draußen in Märchenmond vergangen, während er bewußtlos auf Burg Morgen gelegen war? »Nun?« fragte Jarrn gehässig. »Ist dir der Humor vergangen?«

Jarrn erhielt keine Antwort, und nachdem er sich eine Weile an Kims unübersehbarem Entsetzen geweidet hatte, trat er einen Schritt zurück, hob die Hand, und ein zweiter Zwerg erschien hinter ihm. Er trug einen Sack aus grobem Leinen, in dem etwas heftig zappelte und sich bewegte. »Und damit du dir nicht umsonst Hoffnungen machst und dann enttäuscht bist«, fuhr der Zwergenkönig hämisch fort, »habe ich hier noch eine besondere Überraschung für dich.« Er öffnete den Knoten, mit dem der Sack verschlossen war, und drehte ihn herum. Ein stacheliges, häßliches Etwas fiel heraus und kollerte mit einem wütenden Pfeifen über den Boden.

»Bröckchen!« rief Kim erschrocken aus.

Das Werwesen fuhr herum und zischte zornig. Als es Kim erkannte, trat ein Ausdruck unendlicher Trauer in seine Augen.

»Ganz recht!« sagte Jarrn. »Es war wirklich nicht leicht, diesen vierbeinigen Widerling einzufangen. Wenn ich bedenke, wie er meine Leute zugerichtet hat, dann müßte ich dir eigentlich noch ein halbes Jahrhundert als Zugabe verpassen. Aber ich will es für diesmal gutsein lassen. Nimm den da als Geschenk, und als Gesellschaft für die Zeit, die du noch hier verbringen mußt.« Und damit drehte er sich um und ging lauthals lachend davon.

Er entfernte sich ein paar Schritte, dann blieb er stehen und wandte sich noch einmal zu Kim um. »Ach, übrigens«, sagte er in einem Tonfall, als wäre es ihm gerade erst eingefallen. »Du und dein gräßliches Stachelschwein da -« er deutete auf Bröckchen. »Ihr könnt euch die Mühe sparen, fliehen zu wollen. Diese Höhlen haben keinen Ausgang. Zumindest keinen, den ihr benutzen könntet.« Und damit verließ er sie. Lange Zeit war es still, nachdem der Zwergenkönig wieder gegangen war. Sein Erscheinen hatte auch einige der anderen Gefangenen geweckt und sie neugierig aufsetzen lassen, aber niemand sprach ein Wort. Kim spürte nur voll Unbehagen, wie sie ihn aufmerksam betrachteten. »Ist das wahr?« fragte Peer schließlich leise.

»Was?«

»Was der Zwerg gemeint hat«, wiederholte Peer. In seiner Stimme war ein Ton, der Kim nicht gefiel. Er sah auf und erblickte etwas im Gesicht des Jungen, das ihm Angst einflößte.

»Daß die Steppenreiter deine Freunde sind?«

»Ja«, gestand Kim.

»Dann hast du mich belegen«, sagte Peer. »Du hast gesagt, du bist mein Freund. Aber du hast mich von Anfang an belegen. Du stehst auf ihrer Seite.«

»Nein!« Kim schüttelte hilflos den Kopf und fügte mit leiserer Stimme hinzu: »Oder doch, ja. Aber nicht so, wie du glaubst.«

»Nicht so, wie ich glaube!« echote Peer. »Wie denn sonst? Der König der Steppenreiter ist dein Freund! Wahrscheinlich hast du dich insgeheim halb totgelacht, als ich dir erzählt habe, was auf unserem Hof geschah!«

»Das ist nicht wahr!« beteuerte Kim. »Priwinn ist mein Freund, das stimmt. Aber ich wollte nie, daß er das tut. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen. Was glaubst du, warum ich hier bin?«

»Woher soll ich das wissen?« erwiderte Peer haßerfüllt, aber Kim fuhr im gleichen Tonfall fort: »Weil ich mich von ihnen getrennt habe, Peer. Weil ich versuchen wollte, das Geheimnis der Zwerge zu ergründen, bevor genau das geschieht, was nun geschehen ist.«

Der Junge blickte ihn unsicher an. »Das Geheimnis der Zwerge?«

Kim machte eine hilflose Geste in die Runde. »Ich ... ich dachte, ich könnte herausfinden, was mit all den Kindern geschehen ist. Aber ich habe versagt.«

»Welchen Kindern?«

»Den Kindern, die aus Märchenmond verschwinden«, antwortete Kim. »Niemand weiß, was ...«

Peer unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste. »Das mußt du mir nicht erzählen. Ich hatte drei Brüder, die nicht mehr da sind.«

Nun war Kim an der Reihe, den anderen verblüfft anzusehen. Sie hatten viel miteinander geredet in den vergangenen Wochen, und er hatte den Jungen gut kennengelernt und viel über sein Leben auf dem Bauernhof erfahren. Doch von seinen Geschwistern hatte Peer ihm nie erzählt. Noch etwas war an den Worten des Jungen, das Kim alarmierte. Drei Brüder ... Etwas daran erschien Kim bedeutsam. Aber er konnte einfach nicht sagen, was.

»Und was hat das alles mit den Zwergen zu tun?« fragte Peer.

»Ich fürchte, eben nichts«, sagte Kim niedergeschlagen. Er seufzte. »Ich bin ein Narr, Peer. Ich habe geglaubt, ich könnte kommen und ganz allein vollbringen, was allen anderen mißlungen ist.«

»Nun ja -«, sagte Peer, »du wirst lange genug Gelegenheit haben, über deinen Irrtum nachzudenken. Fünfhundert Jahre werden wohl reichen.«

»Du glaubst doch nicht, daß ich hierbleibe«, widersprach Kim entschlossen. »Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde hier herauskommen. Und ihr auch.«

Peer lachte leise und nicht im mindesten belustigt.

»Aha«, meinte er. »Wir müssen nur warten, bis unsere Ketten durchrosten und diese Felsen hier von selbst zusammenbrechen.«

»Es ist nicht das erste Mal, daß ich einem Kerker entkomme, von dem es heißt, daß eine Flucht unmöglich ist«, erklärte Kim. »Und es wird mir noch einmal gelingen.«

»Ich fürchte«, piepste Bröckchen kleinlaut, »diesmal wird es nicht ganz so einfach.« Er trippelte näher, bedachte Peer mit einem prüfenden Blick und rollte sich schließlich neben Kims Seite zusammen, wobei seine langen, scharfen Stacheln durch Kims zerschlissenes Hemd stachen. »Der Zwerg hat die Wahrheit gesagt. Es führt kein Weg aus diesen Höhlen.«

»Das ist doch Unsinn!« sagte Kim unwillig. »Wir sind ja schließlich auch hier hereingekommen.«

»In diese Höhlen führen nur Wege hinein, keiner hinaus«, beharrte Bröckchen. »Glaube mir. Nur die Zwerge kennen den Ausgang.« Er schniefte hörbar. »Die mit ihrer Zauberei. Was denkst du, wie sie mich eingefangen haben? Bestimmt nicht mit bloßen Händen! Es waren ihre miesen Kunststücke, auf die ich hereingefallen bin.«

»Trotzdem!« Kim schüttelte heftig den Kopf. »Ich schwöre, daß ich einen Ausweg finden werde. Und wenn ich mich mit bloßen Händen durch den Stein graben muß!«

Bröckchen antwortete gar nicht mehr darauf, und insgeheim spürte Kim selbst, daß das, was sich wie Entschlossenheit anhören mochte, in Wirklichkeit nichts anderes als bloß Trotz und Verzweiflung war.

XXI

Die Gelegenheit zur Flucht kam wirklich, und sie kam schneller und aus einem ganz anderen Grund, als Kim gedacht hätte. Während der ersten Tage nach Jarrns Besuch versuchte er alles mögliche, um sich von seiner Kette zu befreien. Aber es war so, wie der Zwergenkönig damals in den Höhlen der Flußleute behauptet hatte: Die dünnen Glieder aus schwarzem Eisen waren unzerreißbar. Keine Kraft, kein Werkzeug, das er bei seiner Arbeit benützte und das er eines nach dem anderen ausprobierte, vermochte den Zwergenstahl auch nur anzukratzen. Selbst Bröckchens Zähne, denen sonst rein gar nichts widerstand, versagten vor diesem Zaubermetall.