Aber es hatte keinen Zweck, über gemachte Fehler zu jammern.
Eine Bewegung bei den Pferden erweckte seine Aufmerksamkeit. Er sah hin und erkannte gerade noch eine haarige Gestalt mit langen pendelnden Armen, die blitzartig im Unterholz verschwand.
»Was war das?«, fragte Kai alarmiert. Seine Hand senkte sich auf das Schwert, das er am Gürtel trug. Er wirkte angespannt, als hätte er etwas gesehen, wäre aber nicht ganz sicher, was.
Kim zuckte nur mit den Schultern, bückte sich nach seiner Decke und rollte sie zusammen. Mit klopfendem Herzen, aber ohne äußere Hast, ging er zu seinem Pferd, befestigte die Decke hinter dem Sattel und stieg auf.
»Seid ihr so weit?«, fragte er.
Kai blickte ihn böse an. »Du hast einen komischen Humor«, sagte er. »Erst lässt du uns die ganze Arbeit machen und dann drängelst du auch noch.«
»Ich habe es eben eilig«, antwortete Kim. Und damit stieß er dem Hengst mit solcher Kraft die Absätze in die Flanken, dass das Tier mit einem erschrockenen Wiehern lospreschte.
»He!«, brüllte Kai. »Was -? Er haut ab! Hinterher!«
Die letzten Worte hatte er geschrien. Der zweite Steppenreiter und einer der anderen Jungen ließen sofort alles fallen, was sie in den Händen hatten, und rannten zu ihren Pferden. Kim erschrak, als er sah, mit welcher Schnelligkeit sie sich auf die Rücken der Tiere schwangen.
Und auf der anderen Seite zusammen mit den Sätteln wieder herunterfielen.
Kai brüllte vor Wut, schwang sich ebenfalls in den Sattel und sprengte los.
Er kam immerhin zwei Schritte weit, bevor er zusammen mit dem Sattel und der dazugehörigen Decke rückwärts vom Pferd rutschte und ziemlich unsanft im Gras landete.
Jetzt wusste Kim, was der Pack bei den Pferden gemacht hatte. Er hatte die Sattelriemen gelöst um ihm auf diese Weise einen gewissen Vorsprung zu verschaffen.
Und Kim gedachte ihn auszunutzen. Obwohl er in der fast vollkommenen Dunkelheit nur wenige Schritte weit sehen konnte, ritt er mit halsbrecherischer Geschwindigkeit weiter und überließ es den schärferen Sinnen des Pferdes einen sicheren Weg zu finden. Er musste das Tier auch kaum antreiben. Der Hengst griff ganz von selbst immer rascher aus und gewann sogar noch an Geschwindigkeit, obwohl das Gelände immer schwieriger wurde. Der Pack war außer ihm offensichtlich nicht der Einzige, der Kai und seine Freunde lieber von weitem sah.
Der Hengst sprengte einen Hang hinab und setzte mit einem gewaltigen Sprung über einen schmalen Bachlauf hinweg. Der Aufprall war so hart, dass Kim aus dem Sattel geworfen wurde und einen zweifachen Salto in der Luft schlug, ehe er reichlich unsanft im Gras landete.
Einige Sekunden lang blieb er mit geschlossenen Augen liegen und lauschte in sich hinein. Jeder einzelne Knochen im Leib tat ihm weh, aber er schien sich wenigstens nichts gebrochen zu haben.
Benommen setzte er auf und schüttelte den Kopf und neben ihm sagte eine dünne, piepsige Stimme: »Autsch! Das hat wehgetan, wie?«
Kim blinzelte und blickte sich erschrocken um. Er war allein. Das Gras, auf dem er gelandet war, war nicht einmal hoch genug um eine Katze darin zu verbergen. Wer also sprach da zu ihm?
»Du bist unhöflich«, fuhr die Stimme fort. »Ich habe mit dir geredet. Normalerweise antwortet man, wenn man etwas gefragt wird.«
Kim sah sich immer verwirrter um. Im Gras glitzerte der erste Morgentau, aber nirgendwo zeigte sich auch nur die Spur von Leben.
»Entschuldige bitte«, murmelte Kim. »Aber ich ... wer bist du?«
»Ist das bei euch so üblich, auf eine Frage mit einer Gegenfrage zu antworten?«, nörgelte die Stimme.
»Nein«, antwortete Kim. »Es ist nur ... ich kann dich nicht sehen.«
»Du sitzt auf mir, um genau zu sein.«
Kim sprang hoch und sah nach unten. Aber da war nichts. Nur feuchtes Gras. »Wer ... bist du?«, fragte er. Dann fügte er - obwohl er sich dabei selbst ein bisschen komisch vorkam - hinzu: »Bist du ... das Gras?«
Es war eine alberne Frage und die Antwort fiel auch entsprechend aus: »Das Gras? Willst du mich auf den Arm nehmen, Kerl? Bin ich grün im Gesicht?«
»Natürlich nicht«, antwortete Kim hastig. »Aber wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich es nicht. Wer bist du?«
»Du bist wirklich der begriffstutzigste Langlebige, der mir jemals untergekommen ist«, seufzte die Stimme. »Du trampelst gerade auf mir herum, wenn du es genau wissen willst. Ich bin der Tau.«
»Der Tau?!«
»Der Tau.« Die Stimme seufzte wieder. »Hast du auch was an den Ohren?«
»Tau«, murmelte Kim. Sein Blick tastete verstört über die Millionen glitzernder Tautröpfchen im Gras.
»Offensichtlich stottert er auch noch«, stellte die Stimme fest. »Nein, das ... das ... das stimmt nicht«, stotterte Kim. »Ich war nur ... nur so überrascht, das ist alles. Ich habe so etwas wie dich noch nie gesehen, weißt du.«
»Du hast noch nie Tau gesehen?«
»Doch, sicher, natürlich!«, sagte Kim hastig. »Es ist nur ...«
»Ja?«
»Ach, vergiss es«, sagte Kim. Er massierte sich seinen schmerzenden Rücken und humpelte zu seinem Pferd, das nur noch ein paar Schritte weitergelaufen und dann stehen geblieben war. »Und entschuldige mich bitte. Ich muss weiter.«
»Weiter, so, so«, sagte der Tau. »Willst du dich mit den anderen treffen?«
Kim blieb stehen. »Welchen anderen?«
»Woher soll ich das wissen?«, nörgelte der Tau. »Du kannst es dir aussuchen: Die drei, vier, die auf der anderen Seite des Hügels warten, oder die beiden, die um den Bach herumgeritten sind und jetzt aus der anderen Richtung herankommen.« Kim sah sich erschrocken um. Die Dämmerung hatte begonnen den Horizont im Osten grau zu färben, aber das Licht reichte noch lange nicht aus, weiter als ein paar Schritte zu sehen.
»Lass mich raten«, fuhr die Stimme des Taus fort. Sie klang jetzt unüberhörbar spöttisch. »Die fünf sind nicht unbedingt deine Freunde.«
»Das könnte man so sagen«, antwortete Kim. »Wie kommst du darauf?«
»Ich könnte dir verraten, was sie mit dir vorhaben, wenn sie dich zu fassen bekommen«, antwortete der Tau. »Aber ich glaube nicht, dass du das wirklich hören willst.«
»Woher weißt du das?«, wunderte sich Kim.
»Na, woher werde ich das wohl wissen?!«, fauchte der Tau. »Diese Tölpel trampeln genauso auf mir herum wie du. Wie alle, nebenbei bemerkt.«
»Ach so«, sagte Kim, machte einen weiteren Schritt auf das Pferd zu und blieb dann wie angewurzelt wieder stehen.
»Moment mal!«, murmelte er. »Soll das heißen, dass du ... dass du alle Menschen überall belauschen kannst? In welcher Entfernung?«
»Entfernung? Ich bin überall.«
»Oh«, sagte Kim.
»Oh - was?« Der Tau lachte spöttisch. »Also, ich nehme an, du willst die anderen treffen. Sie sind nämlich gleich da.«
»Lieber nicht«, antwortete Kim. »Du kannst mir nicht zufällig ein gutes Versteck verraten?«
»Natürlich«, antwortete der Tau. »Was bekomme ich dafür?«
»Bekommen?«
»Du willst etwas von mir«, sagte der Tau. »Dafür steht mir doch eine gewisse Gegenleistung zu, oder?«
Kim sah hoch. Wahrscheinlich war es nur seine eigene Nervosität, aber für einen Moment glaubte er tatsächlich bereits das Geräusch eisenbeschlagener Hufe auf dem nassen Gras zu hören. »Können wir das vielleicht später besprechen?«, fragte er. »Ich meine ... es könnte sonst sein, dass dein Angebot nicht mehr von besonderem Wert für mich ist, weißt du?«
»Reite einfach weiter geradeaus«, sagte der Tau. »Nach einer Weile kommt ein Waldstück. Es gibt eine Höhle, nur ein paar Schritte vom Waldrand entfernt. Sie gehen nicht dort hinein. Sie glauben, dass ein Skull darin wohnt.«