Kim ersparte sich die Frage, was ein Skull war. Wenn Kai und seine vier Begleiter sich davor fürchteten, einem solchen Wesen zu begegnen, dann wollte er gar nicht so genau wissen, worum es sich handelte.
»Also gut«, sagte er. »Wo ist diese Höhle?«
»Was ist mit der Gegenleistung?«, fragte der Tau.
Kim wollte antworten, aber in diesem Moment hörte er tatsächlich ein Geräusch. »Du bekommst sie«, sagte er hastig. »Was immer du auch verlangst.«
»Den Tag«, antwortete der Tau.
»Den ... Tag?« Kim verstand nicht, was die körperlose Stimme meinte. Aber die Geräusche, die durch die Dunkelheit zu ihm drangen, wurden immer lauter. Jetzt war nicht die Zeit zum Diskutieren. »Meinetwegen.«
»Reite einfach den Bach entlang«, sagte der Tau. »An der großen Eiche biegst du nach Westen ab. Du kannst die Höhle nicht verfehlen. Der Eingang liegt zwischen zwei Felsen am Waldrand.«
»Weiter am Bach entlang?« Aber genau von dort kamen die Geräusche der sich nähernden Reiter!
»Ich lenke sie ab«, erklärte der Tau. »Denk an dein Versprechen.«
Kim schwang sich in den Sattel, drehte das Pferd in die angegebene Richtung und ritt los. Das Geräusch der Hufschläge wurde jetzt schnell lauter, aber plötzlich hörte er einen Schrei, dann das erschrockene Wiehern eines Pferdes und mehrere Schreie. Nur einen Augenblick später sah er die beiden Jungen, die er bisher nur gehört hatte. Der eine lag auf dem Rücken im Gras, hatte beide Hände schützend über das Gesicht gehoben und versuchte verzweifelt nicht von den trampelnden Hufen des Pferdes getroffen zu werden, das ihn abgeworfen hatte und sich wie toll gebärdete. Das zweite Tier war vollends durchgegangen und schleifte seinen Reiter hinter sich her.
Kim sprengte ohne anzuhalten weiter, erreichte nach wenigen Augenblicken den Baum, von dem der Tau gesprochen hatte, und wandte sich nach Westen. Kaum eine Minute später tauchte der Waldrand vor ihm auf und gleich danach entdeckte er die beiden Felsen. Er beugte sich tiefer über den Hals des Pferdes und jagte in gestrecktem Galopp in die Höhle hinein. Dumpfe Luft umgab ihn und der Lärm der hämmernden Pferdehufe klang auf unheimliche Weise verzerrt.
Er ritt noch ein Stück weiter, glitt dann aus dem Sattel und lauschte mit angehaltenem Atem. Von draußen drangen Lärm und wütende Stimmen herein.
Das Pferd schnaubte nervös und begann dann unmutig mit den Hufen am Boden zu scharren. Der Laut wurde als verändertes, vielfaches Echos zurückgeworfen, aber Kim hatte plötzlich das Gefühl, dass noch etwas Neues hinzugekommen war. Etwas wie ein schweres, rasselndes Atmen. Vielleicht das Schaben von Schuppen auf Stein oder ein Geräusch, wie es gewaltige Krallen verursachen mochten, die über harten Fels schrammten. Er verscheuchte den Gedanken. Es war bestimmt nur Einbildung.
Die zornigen Stimmen draußen jedenfalls kamen näher. »Er muss hier irgendwo sein!«, rief Kai. »Verdammt noch mal! Sucht ihn!«
»Aber er ist verschwunden!«, antwortete eine andere Stimme. »Ich schwöre, er war gerade noch da!«
Kims Herz schlug schneller, als die Stimmen näher kamen. Einen Augenblick später sah er schattenhafte Bewegungen in der Dunkelheit jenseits des Höhleneingangs.
»Er kann doch nicht vom Erdboden verschwunden sein!«, fuhr die Stimme des zweiten Steppenreiters fort. »Hier sind überhaupt keine Spuren!«
»Aber ich habe ihn doch gerade noch gesehen!«, sagte eine andere Stimme.
Kim fuhr erschrocken zusammen, als einer der verschwommenen Schemen draußen die Hand hob und direkt zu ihm hereindeutete. »Und wenn er dort hineingeritten ist?«
»Dann müssten wir seine Spuren sehen«, antwortete Kai. »Außerdem ist das eine Skull-Höhle. So verrückt kann nicht einmal er sein.«
»Und wenn er es war, dann ist er jetzt schon tot«, fügte die andere Stimme hinzu. »Wenn er Glück hat...«
»Kommt«, sagte Kai. »Vielleicht ist er doch auf der anderen Seite des Hügels. Wir kriegen ihn schon. Und dann werden wir seinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen, das garantiere ich euch.«
Die Stimmen und Geräusche entfernten sich. Aber es wurde nicht still. Hinter ihm waren noch immer diese unheimlichen Laute, von denen er nicht wusste, was sie bedeuteten, denen seine Fantasie aber alle möglichen erschreckenden Bedeutungen beimaß. Er brauchte sehr viel mehr Mut, als ihm selbst lieb war, um sich herumzudrehen und wieder in die Dunkelheit zu blicken.
Kim erschrak zutiefst. Das Pferd stand nur einen Schritt hinter ihm und allein sein Anblick ließ Kims Herz noch schneller schlagen. Jeder Muskel des Tieres war angespannt. Seine Ohren waren angstvoll zurückgelegt und es hatte die Augen so weit aufgerissen, dass man fast nur noch das Weiße sehen konnte. Die Dunkelheit dahinter war so vollkommen, dass das schwarze Fell des Tieres regelrecht damit zu verschmelzen schien. Und trotzdem bildete er sich für einen Moment ein, eine Bewegung in dieser Dunkelheit zu erkennen, etwas wie das Kriechen eines mächtigen, formlosen Schattens ...
Kim schüttelte den Gedanken mit aller Mühe ab, ergriff die Zügel des Pferdes und führte das Tier rückwärts gehend weit genug zurück, bis er es herumdrehen konnte. Das Tier zitterte am ganzen Leib. Es stank regelrecht nach Angst.
Auch Kim zitterte spürbar, als er endlich den Ausgang erreichte. Am liebsten hätte er sich sofort in den Sattel geschwungen um so schnell und so weit davonzupreschen, wie es nur ging. Stattdessen blieb er jedoch noch einen Moment unter dem Höhleneingang stehen und ließ seinen Blick über das Gras schweifen. Er sah etwas höchst Erstaunliches: Die Spuren Kais und der beiden anderen waren im taufeuchten Gras deutlich zu sehen. Sie hatten sich der Höhle bis auf vielleicht zehn Meter genähert. Jenseits dieser imaginären Grenze jedoch war das Gras unberührt. Der Tau glitzerte wie Millionen winziger scharf geschliffener Glassplitter. Kims eigenes Pferd hatte nicht die geringste Spur im Gras hinterlassen.
Er machte zwei weitere Schritte aus der Höhle hinaus, blieb noch einmal stehen und lauschte. Von Kai und den anderen war nichts mehr zu hören. Nur aus der Höhle hinter ihm drangen weiter diese unheimlichen Laute.
»Du hattest tatsächlich Recht, Tau«, sagte er. »Sie haben sich nicht getraut, in die Höhle zu gehen, weil sie sich vor diesem ... Skull gefürchtet haben.« Er stieg in den Sattel. Hinter ihm scharrte etwas. Es klang wie ein Schwert, das über Stein schrammte. »Was ist überhaupt ein Skull?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete der Tau. »Ich kann nicht in die Höhle sehen.«
Natürlich nicht, dachte Kim. Es war eine dumme Frage gewesen. Der Boden dort drinnen war staubtrocken und das vermutlich seit einer Million Jahre.
»Aber du solltest dich ein wenig beeilen«, fuhr die körperlose Stimme fort. »Ich meine nur: Falls du nicht unbedingt Wert darauf legst, es selbst herauszufinden.«
»Wie bitte?!«
Das Scharren und Kratzen kam näher und Kim konnte regelrecht spüren, wie sich hinter ihm etwas Riesiges, unvorstellbar Gefährliches zum Sprung spannte. Eine halbe Sekunde lang war er vor Schrecken so gelähmt, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Es war sein Pferd, das sie beide rettete. Das Tier schrie in Panik auf, machte einen Satz und sprengte so schnell los, dass Kim sich nur noch ein paar Augenblicke im Sattel halten konnte, ehe er den Halt verlor und zum zweiten Mal an diesem Morgen reichlich unsanft im Gras landete.
»Steigst du eigentlich immer so vom Pferd?«, erkundigte sich der Tau.
»Bist du vollkommen wahnsinnig?«, keuchte Kim. »Du hast gesagt -«
»- dass sie glauben, dass ein Skull in der Höhle lebt«, fiel ihm der Tau ins Wort. »Und das stimmt ja auch, oder? Sie hatten solche Angst, dass sie es nicht gewagt haben, die Höhle zu betreten.«
»Ja, weil in der Höhle auch wirklich ein Skull ist!«, keuchte Kim.