»Ich habe niemals behauptet, dass keiner da wäre«, sagte der Tau. »Ich habe lediglich gesagt, dass sie Angst haben, dass einer da sein könnte.«
»Du solltest Politiker werden«, maulte Kim, während er umständlich aufstand. Das Pferd war ein paar Schritte weitergelaufen und wirkte noch immer sehr nervös. Kim näherte sich ihm nur sehr vorsichtig um es nicht zu erschrecken.
»Auf jeden Fall habe ich Wort gehalten«, behauptete der Tau. »Jetzt bist du dran.«
»Was meinst du damit?«, fragte Kim.
»Du hast mir den Tag versprochen.«
»Den Tag.« Kim hatte das Pferd erreicht und stieg in den Sattel. »Also, um ehrlich zu sein, ich ... ich habe gar nicht richtig verstanden, was du gemeint hast.«
»Der Tag«, beharrte der Tau. »Ich höre immer, wie sie davon reden. Von den warmen Mittagsstunden. Den Sonnenuntergängen am Abend. Dem Flüstern des Windes in einem Kornfeld an einem Sommernachmittag. Der -«
»Ja, ich hab's kapiert«, sagte Kim. Er schwieg einen Moment, ehe er fortfuhr: »Es gibt da nur ein Problem, weißt du?«
»Wieso? Ich habe meinen Teil des Abmachung gehalten und jetzt -«
»Es geht nicht«, sagte Kim.
»Was soll das heißen?« Die körperlose Stimme klang scharf.
»Es ist meine Schuld«, gestand Kim. »Ich fürchte, ich habe nicht richtig darüber nachgedacht. Was du dir wünscht, ist unmöglich.«
»Wieso?«
»Weil der Morgentau verschwindet, wenn die Sonne aufgeht«, antwortete Kim. »So ist es nun einmal. Ich kann es dir erklären. Tau entsteht, wenn sich die Luftfeuchtigkeit -«
»Deine Erklärungen interessieren mich nicht!«, unterbrach ihm der Tau, »ich weiß, wo ich herkomme. Und ich weiß, dass ich bald sterben muss. Du hast gut reden! Du lebst ganze Tage, vielleicht sogar Wochen! Ich darf nur eine halbe Stunde existieren! Das ist nicht gerecht!«
»Aber es ist nun einmal so«, antwortete Kim. »Es tut mir ja Leid, aber ich kann es nicht ändern!«
»Dass ich niemals den Tag sehen werde? Das ist nicht gerecht! Du weiß ja nicht, wie das ist, wenn man immer nur im Zwielicht existiert. Ich sehe den Morgen, aber immer, wenn das Leben gerade richtig beginnt, dann ist es für mich schon zu Ende.«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Kim leise. »Uns Menschen ergeht es genauso.«
»Euch? Aber ihr lebt so lange!«
»Das spielt keine Rolle, glaub mir«, antwortete Kim traurig. »Es macht keinen Unterschied, ob du eine Stunde lebst, einen Tag oder hundert Jahre. Wenn es zu Ende geht, dann ist das Leben immer zu kurz gewesen.«
»Du lügst«, antwortete der Tau. »Du hattest nie vor, dein Wort zu halten. Du bist genau wie alle anderen.«
»Das ist nicht wahr!«, protestierte Kim. »Ich wollte dich nicht belügen, das musst du mir glauben.«
Aber er bekam keine Antwort mehr. Kim rief noch zwei- oder dreimal nach dem Tau, doch es blieb still.
Erst nachdem die Sonne ganz aufgegangen war, ritt er weiter. Sein geheimnisvoller Helfer hatte sich nicht mehr gemeldet, obwohl Kim noch mehrmals nach ihm gerufen und ihm versichert hatte, dass es nicht seine Absicht gewesen war, ihn zu betrügen. Selbst der Pack hatte sich nicht mehr gezeigt. Kim fühlte sich sehr allein.
Er war nach wie vor unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Je weiter er sich Gorywynn und dem ihm vertrauten Teil Märchenmonds näherte, desto bestürzender schienen die Veränderungen zu sein, die mit dieser Welt und vor allem ihren Bewohnern vor sich gegangen waren. Er mußte endlich jemanden finden, der ihm sagen konnte, was hier eigentlich passiert war!
Wenigstens sein treues Pferd war ihm geblieben. Nachdem die Sonne vollends aufgegangen war und mit ihren wärmenden Strahlen die letzten Schatten der Nacht vertrieben hatte, schwang er sich in den Sattel und ritt in westlicher Richtung los. Er kam jetzt nicht mehr so schnell voran wie in den vergangenen Tagen, denn er vermied es nach Möglichkeit, über offene Flächen zu reiten oder in die Nähe menschlicher Ansiedlungen zu kommen - was natürlich für sich genommen ziemlich absurd war: Er konnte kaum damit rechnen von jemandem Aufklärung über die erschreckende Veränderung zu erhalten, wenn er gleichzeitig jedem menschlichen Wesen aus dem Weg ging, und ...
Der Fehler in diesem Gedanken kam ihm mit solcher Plötzlichkeit zum Bewusstsein, dass Kim sein Pferd mitten in der Bewegung verhielt und geschlagene zehn Sekunden lang fassungslos ins Leere starrte.
Er war sehr wohl in der Lage, das Geheimnis zu lüften ohne mit einem Menschen zu sprechen. Schließlich waren Menschen nicht die einzigen Bewohner dieser Welt, die des Redens mächtig waren. Es gab ganz im Gegenteil zahllose andere Geschöpfe, mit denen er reden konnte. Er musste sie nur finden...
Das war allerdings leichter gesagt als getan. Er war jetzt seit guten zwei oder drei Stunden unterwegs ohne auch nur einem einzigen lebenden Wesen begegnet zu sein. Und allein bei dem Gedanken noch einmal in diesen unheimlichen, toten Wald zu gehen, kroch ihm schon wieder ein eisiger Schauer über den Rücken.
Als es Mittag wurde, kam der Pack zurück. Das kleine Wesen tauchte wie üblich wie aus dem Nichts mitten auf der Straße auf, legte einen Leinenbeutel auf den Boden und zog sich dann ein paar Schritte weit zurück, ohne allerdings wieder ganz zu verschwinden. Kim war kein bisschen überrascht, als er aus dem Sattel stieg und feststellte, dass der Beutel frisches Obst und eine Hand voll Beeren enthielt. Er verzehrte beides mit Heißhunger, ließ aber genug übrig, damit sich auch der Pack satt essen konnte. Allerdings war er umsichtig genug, dem bissigen Knirps seinen Anteil zwar hinzuschieben, seine Finger aber nicht in die Reichweite des Pack zu bringen.
»Es ist wirklich zu schade, dass du nicht reden kannst«, sagte er, während er dem Pack beim Essen zusah. »Alles wäre so einfach, wenn du mir nur ein paar Fragen beantworten könntest.«
Der Pack hörte auf, auf einer Birne herumzukauen, und starrte Kim aus seinen hervorstehenden Augen an. Birnensaft lief aus seinen Mundwinkeln und tropfte auf seine Brust, wo er eine glitzerne Spur in dem struppigen Fell hinterließ.
»Wenn ich wenigstens wüsste, ob du mich verstehst«, sagte Kim.
Der Pack legte den Kopf auf die linke Seite und blinzelte.
»Du ... verstehst, was ich sage?«, fragte Kim zögernd.
Der Pack legte den Kopf auf die andere Seite. Er blinzelte wieder.
»Du verstehst mich«, sagte Kim. Plötzlich war er sehr aufgeregt. Seine Gedanken überschlugen sich schier. Er war fast sicher, dass der kleine Kerl ihn wirklich verstand. Außerdem: Was hatte er zu verlieren?
Trotzdem überlegte er sich seine nächsten Worte sehr genau, ehe er fortfuhr. »Pass auf, Pack«, sagte er. »Ich mache dir einen Vorschlag: Aus irgendeinem Grund scheinst du ja zu glauben, dass du mir etwas schuldig bist. Wenn du mich zu jemandem bringst, mit dem ich reden kann, dann sind wir quitt.«
Der Pack kaute ein einzelnes Mal und starrte ihn dann weiter an.
»Ich meine: Du brauchst danach nicht mehr bei mir zu bleiben«, fuhr Kim fort, »oder mir ständig etwas zu essen zu bringen. Du kannst wieder nach Hause gehen oder wohin du sonst willst. Ich will nur mit jemandem reden, der weiß, was hier los ist. Aber es darf kein Mensch sein, hast du das verstanden?«
Natürlich bekam er keine Antwort. Aber nach einigen weiteren Augenblicken schluckte der Pack den Bissen, den er im Mund hatte, mit sichtlicher Anstrengung hinunter, warf die angebissene Birne in hohem Bogen davon und stand auf. Er trippelte ein paar Schritte davon, blieb stehen um einen auffordernden Blick über die Schulter zurück in Kims Richtung zu werfen und schlurfte dann weiter. Eindeutiger ging es schon kaum noch.
»Also gut«, sagte Kim. »Wir sind im Geschäft.«
Er folgte dem Pack. Das Wesen schlurfte einige Zeit weiter die Straße hinab und bog dann nahezu im rechten Winkel davon ab - wie Kim voller Unbehagen bemerkte in direkter Richtung auf ein kleines Waldstück zu, das vielleicht eine halbe Meile entfernt war. Aber nun konnte er nicht mehr zurück. Die Gegenleistung, die er dem Pack für seine Hilfe versprochen hatte, war reichlich hoch. Es war gut möglich, dass er die nächsten Tage mit knurrendem Magen zubrachte. Wenn, dann sollte es wenigstens nicht umsonst gewesen sein.