Im Inneren des Waldes war es so dunkel und still, wie er erwartet hatte. Er musste nur ein paar Schritte weit sehen um zu spüren, dass dieser Wald ebenso ausgestorben war wie der, in dem er die toten Elfen gefunden hatte.
Kim blieb stehen und warf einen ärgerlichen Blick zum Waldrand zurück. Warum zum Teufel hatte der Pack ihn hierher geführt? Hier gab es absolut nichts und gar niemanden, mit dem er reden konnte! Nichts als Bäume und abgestorbenes Unterholz.
Und das größte Spinnennetz, das Kim jemals gesehen hatte.
Es war so gewaltig, dass Kim es nicht einmal als das wahrnahm, was es war, sondern die Gefahr erst begriff, als er im wahrsten Sinne des Wortes hineinstolperte. Plötzlich fand er sich in einem Gewirr fingerdicker, klebriger grauer Stränge verstrickt. Kim keuchte vor Schreck und Ekel, riss instinktiv die Hände in die Höhe und versuchte sich aus dem klebrigen Gespinst zu befreien, erreichte damit aber nicht mehr, als sich noch tiefer in das Gewirr einander überschneidender Fäden zu verwickeln.
Für einen Augenblick drohte er in Panik zu geraten. Er schrie laut auf, schlug um sich und riss und zerrte mit aller Gewalt an den dünnen Fäden. Sie erwiesen sich jedoch als nicht annähernd so zerbrechlich, wie sie aussahen. Es gelang ihm nicht einmal einen einzigen davon zu zerreißen. Dafür hinterließ die klebrige Flüssigkeit, mit der sie beschichtet waren, brennende rote Striemen auf seiner Haut und je mehr er sich wehrte, desto enger wickelten sich die Fäden um seine Glieder und seinen Körper. Nach kaum einer Minute hatte er sich so hoffnungslos in das Netz verstrickt, dass er nur noch den Kopf und den rechten Arm bewegen konnte.
Mit heftig hämmerndem Herzen sah er sich um.
Das Netz spannte sich zwischen zwei Bäumen, die mindestens zehn Meter auseinander standen, und es war wirklich perfekt getarnt. Die meisten Stränge verbargen sich zwischen Ästen und Unterholz und viele andere waren mit Moos oder Blättern getarnt. Es musste sehr alt sein, denn ein großer Teil war so staubig, dass er eher wie ein zerrissenes graues Segel aussah, und je länger Kim es betrachtete, desto mehr graue, staubverklebte Kokons entdeckte er darin; die Opfer, die die Besitzerin des Netzes eingesponnen hatte. Einige davon waren ziemlich groß, was Rückschlüsse auf die Größe besagter Besitzerin zuließ. Von der Spinne selbst war gottlob nichts zu sehen. Kim legte auch keinen besonderen Wert darauf, die Erbauerin dieses Kunstwerks kennen zu lernen. Vielleicht war sie ja auch gar nicht mehr da. So wie das Netz aussah, war es gut möglich, dass es schon vor langer Zeit aufgegeben worden war.
Das war vielleicht ein kleiner Trost, half ihm im Moment aber nicht viel weiter. Er musste sich befreien, wenn er nicht Gefahr laufen wollte jämmerlich zu verhungern oder zu verdursten. Er zerrte mit aller Gewalt an den Stricken, die sich um sein linkes Handgelenk gewickelt hatten. Es half nicht. Die Fäden waren so fest wie Drahtseile.
»Das hat keinen Zweck«, piepste ein dünnes Stimmchen. »Du tust dir nur selbst weh. Und außerdem könntest du Sie anlocken. Das wäre nicht gut.«
Kim verdrehte den Kopf, so weit er konnte. Er sah nirgendwo eine Bewegung, geschweige denn das Wesen, das zu ihm gesprochen hatte.
»Wer bist du?«, fragte er. »Wo bist du?«
»Genau neben dir«, piepste die Stimme.
Kim sah genauer hin, erblickte aber immer noch nichts - abgesehen von einem staubigen grauen Kokon in der Größe zweier nebeneinander gelegter Hände. »Bist du ... da drin?«, murmelte er stockend.
»Ich fürchte«, antwortete die Stimme. »Wenn auch wahrscheinlich nicht mehr sehr lange. Ich kriege nämlich kaum noch Luft. Könntest du vielleicht...?«
Kim streckte den rechten freien Arm aus. Er konnte den Kokon gerade mit den Fingerspitzen berühren. Die Spinnenseide fühlte sich unter seinen Fingern täuschend zerbrechlich an, aber als er mit den Fingernägeln daran kratzte, spürte er, dass sie in Wirklichkeit so widerstandsfähig wie Stahl war. Irgendetwas bewegte sich im Inneren des Kokons, das konnte er fühlen.
»Gut«, piepste die Stimme. »Mach weiter so.«
Weiter? dachte Kim verblüfft. Aber er tat doch gar nichts. Trotzdem ließ er die Fingerspitzen, wo sie waren. Die Bewegung im Inneren des Kokons schien stärker zu werden. Es vergingen noch einige Augenblicke, dann riss der obere Teil des Kokons plötzlich auf und ein schwacher, goldfarbener Schimmer drang heraus. Kim beobachtete verblüfft, wie die Spinnenseide regelrecht schmolz, als sie von dem goldenen Licht berührt wurde. Nach kaum einer Minute hatte sich das gesamte obere Drittel des Kokons aufgelöst und in der Öffnung erschien eine schlanke, kaum handgroße Gestalt mit silberfarbenem Haar und bunt schillernden Libellenflügeln.
»Du bist... eine Elfe!«, sagte Kim verblüfft.
»Ja, im Allgemeinen nennt man uns so«, antwortete der Winzling und schüttelte sich. Noch mehr goldenes Licht stob von seinen Flügeln hoch und Kim sah jetzt, dass es nicht wirklich Licht war, sondern ein feiner, goldschimmernder Staub. Überall, wo er die Spinnenseide berührte, löste sie sich in Windeseile auf.
»Aber ich dachte, ihr wärt alle tot!«, sagte Kim verblüfft.
»Beinahe wäre ich das auch gewesen«, antwortete die Elfe. »Wenn du nicht gekommen wärst ... vielen Dank auch noch einmal.«
»Aber was habe ich denn getan?«, fragte Kim.
»Du gibst mir Kraft«, antwortete die Elfe. Sie schüttelte sich wieder und ein weiterer Schwall golden leuchtender Staub senkte sich auf den Kokon und zersetzte die Spinnenseide. Die Elfe war jetzt beinahe frei.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Kim.
»Jeder, der an uns glaubt, gibt uns Kraft«, belehrte ihn die Elfe, aber Kim schüttelte nur den Kopf.
»Das meine ich nicht«, sagte er. »Der Staub. Er löst ja das Netz auf!«
»Natürlich löst er das Netz auf«, antwortete die Elfe. »Wir sind Geschöpfe des Guten. Elfenstaub ist gut gegen jede Gefahr. Na ja ... gegen fast jede.«
»Und wie bist du überhaupt in dieses Netz geraten?«, fragte Kim.
»Nun ja...« Die Elfe druckste einen Moment herum. »Ich war anscheinend ... ein bisschen unaufmerksam. Aber Gott sei Dank bist du ja noch im richtigen Moment gekommen. Mein Name ist übrigens Twix, falls es dich interessiert, wem du das Leben gerettet hast.«
Die Elfe hatte sich mittlerweile vollkommen befreit. Jetzt reckte sie sich, bewegte die Flügel und machte ein paar Schritte auf der Stelle, wie um sich davon zu überzeugen, dass ihr Körper auch noch wirklich funktionierte.
»Vielleicht könntest du ja jetzt mich befreien«, schlug Kim vor. »Es ist nämlich nicht besonders bequem. Wenn du zufällig noch etwas von deinem Staub übrig hast...«
»Klar«, antwortete die Elfe. »Lass mich nur noch einen Moment - ach du heilige Sch ... !«
Die letzten dreieinhalb Worte hatte sie geschrien und dann war sie wie der Blitz verschwunden. Kim wollte ihr erbost nachrufen, aber in diesem Moment geschah etwas, was ihn die Elfe augenblicklich vergessen ließ.
Das Netz, in dem er gefangen war, begann zu zittern. Nicht hektisch und unregelmäßig, wie vorhin, als er versucht hatte, sich aus den schier unzerreißbaren Seilen zu befreien, sondern sacht, gleichmäßig und rhythmisch, als käme etwas herangelaufen, etwas mit ziemlich vielen Beinen ...
Kim drehte mit einem Ruck den Kopf und sein Herz machte einen jähen Satz bis in seinen Hals hinauf um dort mit zehnfacher Schnelligkeit weiterzuhämmern.
Die Spinne war nicht ganz so gigantisch, wie es angesichts des Netzes möglich gewesen wäre, aber sie war trotzdem riesig. Jedes ihrer Beine war länger als Kims Unterarm und der Körper, der mit feinem, weißem Fell bewachsen war, war mindestens so groß wie ein Fußball. Trotz ihrer enormen Größe turnte sie mit erstaunlicher Schnelligkeit und verblüffendem Geschick über das Netz heran.