Eine Minute später war er sehr froh, so vorsichtig gewesen zu sein.
Vor ihm befanden sich vier Reiter, die mit unübersehbarer Begeisterung dabei waren, einen fünften, unberittenen Mann zwischen sich herumzustoßen. Die vier Reiter waren bewaffnet - zwei mit Schwertern, einer mit einem Speer und der vierte mit einer Armbrust, die er dazu benutzte, sein Opfer zwischen sich und den drei anderen hin und her zu schubsen.
Das Opfer der vier jungen Burschen - keiner von ihnen war älter als Kim - war ein alter, bärtiger Mann in zerschlissener Kleidung. Er war unbewaffnet und die nackte Todesangst stand ihm im Gesicht geschrieben.
Der Anblick erfüllte Kim mit solchem Zorn, dass er nicht einmal auf den Gedanken kam, er könnte sich mit seiner Handlung vielleicht selbst in Gefahr begeben, sondern mit einem entschlossenen Schritt vortrat und rief: »Was geht hier vor?« Für einen Moment waren die vier Reiter so überrascht, dass sie von ihrem Opfer abließen und sich allesamt in seine Richtung wandten. Der alte Mann nutzte die unerwartete Chance, die sich ihm bot, um auf der Stelle herumzufahren und zu flüchten, kam aber nur wenige Schritte weit, denn einer der Burschen riss sein Pferd herum, gab ihm die Sporen und ritt ihn kurzerhand über den Haufen.
»Aufhören!«, sagte Kim scharf. »Seid ihr wahnsinnig geworden?«
Seine Worte lösten bei den vier Jungen unübersehbare Verwirrung aus. Drei von ihnen lenkten ihre Pferde langsam näher, während der Junge mit der Armbrust in einiger Entfernung stehen blieb und Kim misstrauisch anstarrte.
»Wer bist du?«, fragte einer der Jungen.
»Das spielt keine Rolle«, antwortete Kim zornig. »Seid ihr verrückt geworden? Was hat euch der Mann getan?«
»Wie?«, fragte der Junge mit dem Speer. Kim war sicher, dass er den Sinn seiner Frage wirklich nicht verstanden hatte. Aber er sah, wie der andere verstohlen einen Bolzen auf seine Armbrust legte und die Sehne zu spannen begann. Wenn er die Waffe auf ihn anlegt, dachte Kim entschlossen, dann werde ich ihn ins rechte Bein schießen. Oder es wenigstens versuchen.
»Was mischt du dich ein?«, fragte einer der anderen. »Wer bist du überhaupt und wo kommst du her?«
»Lasst den Mann gehen und wir können reden«, antwortete Kim stur. Seine Gedanken überschlugen sich. Vielleicht hatte er doch etwas vorschnell eingegriffen oder ein wenig zu unüberlegt. Die vier Jungen sahen nicht so aus, als ließen sie sich durch selbstbewusstes Auftreten allein einschüchtern. Und wenn es zu einem Kampf kommen würde, dann standen seine Chancen nicht sehr gut. Immerhin waren sie zu viert.
Er warf einen raschen Blick zu dem alten Mann hin. Der hatte sich aufgesetzt, versuchte aber nicht noch einmal zu fliehen, sondern blickte Kim völlig fassungslos an.
Etwas berührte so sacht wie ein fallendes Blatt seine Schulter und der goldene Schimmer, den er für einen Moment aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm, verriet ihm, dass Twix wieder aufgetaucht war - im denkbar ungünstigsten Moment, wie Kim fast im selben Augenblick erkannte.
Auf den Gesichtern der vier Jungen erschien ein Ausdruck, der zwischen Verblüffung und Zorn schwankte. »He!«, schrie einer von ihnen. »Das ... das ist doch eine Elfe!«
»Stimmt«, sagte Kim. »Und?«
»Das muss der sein, von dem Kai erzählt hat«, sagte einer der Jungen. »Schnappt ihn!«
Alles geschah gleichzeitig. Kim spürte einen harten Schlag gegen die Schulter, taumelte zurück und entging so mehr durch Glück als alles andere einem gemeinen Schwerthieb. Gleichzeitig hörte er einen gellenden Schrei und sah, wie der Junge mit der Armbrust seine Waffe fallen ließ und mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Sattel fiel. Kims Pfeil hatte seine rechte Wade durchbohrt.
Ihm blieb jedoch nicht viel Zeit, sich über seinen Sieg zu freuen. Er hatte es noch immer mit drei Gegnern zu tun und die Jungen schienen es nicht unbedingt darauf angelegt zu haben, ihn unverletzt gefangen zu nehmen. Der Speer stocherte in seine Richtung und hinterließ eine hässliche, heftig brennende Schramme an seiner Seite und ein zweiter Schwerthieb verfehlte ihn buchstäblich um Haaresbreite.
Kim versuchte sich mit einem verzweifelten Satz in Sicherheit zu bringen, wurde von einem Pferd gerammt und fiel hilflos auf die Knie herab. Trotzdem hatte er plötzlich einen neuen Pfeil aufgelegt und es war, als sage der Bogen ihm, was zu tun sei, und nicht umgekehrt: Noch während er aufsprang, flog der Pfeil von der Sehne, beschrieb einen engen Bogen und nagelte die Wade eines der Jungen an den Sattel. Der Bursche brüllte vor Schmerz, fiel vom Pferd und wälzte sich auf dem Boden und das Schicksal ihrer Kameraden ließ die beiden anderen Jungen einen Moment zögern.
Das brachte die Entscheidung. Hätten sie sofort angegriffen, so hätten sie Kim wahrscheinlich trotz seiner Wunderwaffe niedergemacht. Aber ihr Zögern gab Kim Gelegenheit, einen weiteren Pfeil auf die Sehne zu legen und zu schießen.
Der letzte verbliebene Angreifer riss sein Pferd herum und suchte sein Heil in der Flucht. Kim registrierte mit einem Gefühl hilflosen Entsetzens, wie seine Hand in den Köcher griff und einen weiteren Pfeil hervorzog. Er wollte es nicht. Er versuchte mit aller Macht die Bewegung zurückzuhalten, aber er konnte nicht anders als den Pfeil aufzulegen und zu schießen. Der Junge war längst in der Dunkelheit verschwunden, aber es nutzte ihm nichts: Aus der Nacht ertönte ein keuchender Schmerzensschrei und erst jetzt war Kim in der Lage seine Finger zu öffnen und den schwarzen Bogen fallen zu lassen.
Erschöpft drehte er sich herum, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, dass die drei Jungen in seiner Nähe zwar verwundet, aber nicht in Lebensgefahr waren und ging dann zu dem alten Mann hinüber.
Der saß noch immer in derselben Haltung wie zuvor da und starrte Kim aus fassungslos aufgerissenen Augen an. »Du... du ... du hast mir ... geholfen«, krächzte er.
»Ja, das stimmt«, antwortete Kim. Jetzt, als die unmittelbare Gefahr und damit die Anspannung vorüber war, begann er am ganzen Leib zu zittern. Seine linke Schulter pochte.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte er. »Sind Sie verletzt?«
»Nein«, murmelte der Alte. Der Ausdruck auf seinem faltigen Gesicht blieb unverändert.
»Was wollten die vier von Ihnen?«, fragte Kim. »Was haben Sie ihnen getan?«
»Nichts«, antwortete der Alte. »Sie wollten, was alle wollen. Aber du ... du hast mir geholfen! Warum hast du das getan?«
»Wie?«, fragte Kim. »Ich verstehe nicht ... ich konnte doch nicht einfach zusehen, wie die vier Kerle Sie quälen.«
»Aber du bist jung!«, antwortete der Alte. Dann weiteten sich seine Augen und ein Ausdruck neuerlichen Erschrecken trat in seinen Blick. »Du bist ja verletzt!«
Kim drehte den Kopf um dem Blick des alten Mannes zu folgen. Aus seiner linken Schulter ragte der gefiederte Schaft eines Armbrustbolzens. Sein Hemd hatte sich dunkelrot gefärbt.
»Oh«, sagte er. »Tatsächlich. Das ist komisch. Es tut überhaupt nicht weh.«
Seine Knie wurden weich. Er sah noch, wie der alte Mann aufsprang und hastig die Arme ausstreckte. Dann nichts mehr.
Als er erwachte, lag er in einem weichen Bett und der Duft von frischer Hühnerbrühe stieg ihm in die Nase. Etwas kitzelte seine linke Wange und noch bevor er die Augen aufschlug, drang ein schwacher goldener Schimmer durch seine geschlossenen Lider.
Er öffnete die Augen, versuchte sich aufzusetzen und sank mit einem Aufschrei wieder zurück. Seine linke Schulter schmerzte erbärmlich.
Kim blieb einige Augenblicke lang reglos liegen, wartete darauf, dass der pochende Schmerz abklang, und versuchte dann sehr viel vorsichtiger sich aufzurichten. Es tat immer noch weh, aber das brennende Pochen war wenigstens nicht mehr unerträglich. Und es hatte zumindest ein Gutes: Es brachte die Erinnerungen zurück. Er besann sich jetzt wieder auf die vergangene Nacht und er hatte sogar eine Ahnung, wo er war.