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Wenigstens hoffte er, dass er nicht schon wieder eine unangenehme Überraschung erleben würde...

Behutsam setzte er sich vollends auf, schwang die Beine aus dem Bett und sah sich um. Das Zimmer, in dem er aufgewacht war, war sehr klein und äußerst spartanisch eingerichtet. Der wenig vorhandene Platz reichte gerade für das Bett und einen wuchtigen, roh gezimmerten Schrank. Die Wände bestanden aus weiß verputztem Lehm und hätten schon vor mindestens zehn Jahren einen neuen Anstrich nötig gehabt und es gab nur ein einziges, schmales Fenster. Durch die Ritzen des vorgelegten Ladens schimmerte helles Sonnenlicht. In seiner Einfachheit erinnerte das Zimmer Kim an Turocks Turm im Schattenwald, aber er verscheuchte den Gedanken hastig. Schließlich konnte er ja nicht immer Pech haben.

Als er aufstand, erhob sich auch Twix von ihrem Platz, surrte wie eine zu groß geratene Libelle zweimal um seinen Kopf und ließ sich dann auf seiner Schulter nieder. Die Elfe war buchstäblich federleicht. Trotzdem tat die Berührung so weh, dass er schmerzhaft die Luft zwischen den Zähnen einsog.

»Au!«, sagte Kim. »Pass doch auf!«

»Ja, ich freue mich auch, dich wieder zu sehen«, piepste Twix. »Ich dachte schon, du wirst nie mehr wach. Schläfst du immer so lange?«

»Nur, wenn ich angeschossen worden bin«, antwortete Kim und fügte in Gedanken hinzu: Woran du nicht ganz unschuldig bist. Aber er sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Es hatte keinen Sinn, der Elfe Vorwürfe zu machen. Sie hatte es ja nur gut gemeint und wahrscheinlich sogar geglaubt, ihm zu helfen. Stattdessen fragte er: »Wo sind wir?«

»In Grendels Haus«, antwortete Twix.

»Grendel? Ist das der Mann, den ich am Fluss getroffen habe?«

Die Elfe nickte so heftig, dass sie fast von seiner Schulter gefallen wäre, und klammerte sich hastig fest. Kim biss erneut die Zähne zusammen um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. »Er hat dich hergebracht«, fuhr die Elfe fort, »und dich gepflegt, als du Fieber hattest. Er ist nicht wie die anderen. Die anderen sind schlecht. Er ist gut.«

»Ich hoffe es«, murmelte Kim. »Wenn nicht, sind wir in Schwierigkeiten.«

Twix sah ihn fragend an, aber Kim sparte sich die Mühe der Elfe erklären zu wollen, wie seine Worte gemeint waren. Stattdessen betrachtete er einige Sekunden lang eingehend seine linke Schulter. Sein Arm hing in einer einfachen, aber sehr zweckmäßigen Schlinge und auch seine Schulter war auf ähnliche Weise verbunden. Er konnte den Arm kaum bewegen und die Schulter tat noch immer ziemlich weh. Und trotzdem hatte er wahrscheinlich noch Glück gehabt. Hätte ihn der Bolzen auch nur wenige Zentimeter tiefer getroffen ...

Kim schauderte, als er an die Entschlossenheit der vier Jungen zurückdachte - und vor allem an ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit. Keiner der vier Jungen war älter gewesen als er und doch hätten sie ihn ohne zu zögern getötet. Dabei wusste Kim nicht einmal, wer sie waren!

Aber vielleicht würde Grendel ihm ja helfen endlich Licht in dieses Dunkel zu bringen.

Er sah sich nach seinen Kleidern um, fand aber nur eine zerschlissene Decke, in die er sich notdürftig hüllte, bevor er das Zimmer verließ.

Der angrenzende Raum war sehr viel größer, aber so hoffnungslos mit Möbeln und anderen Dingen voll gestopft, dass er Kim im ersten Moment fast kleiner vorkam. Das Zimmer schien den gesamten Rest des Hauses zu beanspruchen, denn es gab in drei von vier Wänden Fenster. Grendel stand mit dem Rücken zu ihm am Herd und rührte in einem gusseisernen Topf, aus dem der verlockende Duft kam, und noch bevor Kim ein Wort sagen konnte, hob er die freie Hand und deutete auf den Tisch.

»Setz dich hin. Die Suppe ist gleich fertig. Ich habe gehört, wie du aufgestanden bist.«

Kim ersparte sich eine Antwort, sondern näherte sich dem Tisch in einem komplizierten Slalom um dem Durcheinander auszuweichen, mit dem der alte Mann sein Haus voll gestopft hatte. Zum größten Teil war es Mobiliar - genug, um mindestens drei Häuser dieser Größe einzurichten, schätzte Kim -, aber es gab auch zahlreiche Kisten und Truhen, in denen sich wohl Grendels restliche Habseligkeiten verbargen.

Als er sich gesetzt hatte, hob der alte Mann den Topf vom Herd und trug ihn ohne sichtbare Anstrengung zum Tisch. Kims Magen knurrte hörbar, als ihm der verlockende Duft in die Nase stieg, was von Grendel mit einem flüchtigen Lächeln quittiert wurde.

»Greif nur zu«, sagte er. »Du musst hungrig sein.«

Das ließ Kim sich nicht zweimal sagen. Er langte kräftig zu, verputzte insgesamt vier Teller der kräftigen, mit kleinen Fleischstückchen verfeinerten Suppe und aß dazu fast einen halben Laib Brot, den Grendel ihm auftischte. Der alte Mann sah ihm wortlos dabei zu, aber das warme Lächeln, das Kim schon vorhin in seinen Augen gesehen hatte, verstärkte sich noch.

Kim seinerseits nutzte die Gelegenheit, seinen Wohltäter etwas genauer zu betrachten. Er war nicht ganz so alt, wie er gestern Abend geglaubt hatte; vielleicht gerade so alt wie Kims Vater. Aber das Leben und Wind und Sonne hatten tiefe Spuren in seinem Gesicht hinterlassen und trotz des Lächelns in seinen Augen glaubte Kim auch einen Ausdruck tiefer Verbitterung darin zu erkennen. Er hatte schulterlanges, graues Haar und kräftige Hände, die von schwerer Arbeit vernarbt und schwielig geworden waren.

Endlich war Kim so satt, dass er beim besten Willen keinen Bissen mehr hinunter bekam. Mit einem zufriedenen Nicken schob er seinen Teller zurück und sagte: »Das war köstlich. Vielen Dank.«

»Es war nichts«, antwortete Grendel, lächelte dabei aber. »Ich hätte dir gerne ein gutes Essen vorgesetzt, aber die Zeiten sind schlecht. Es ist nicht mehr viel da, was ich teilen könnte.«

»Mir hat es hervorragend geschmeckt«, behauptete Kim.

»Das ist mir aufgefallen«, antwortete Grendel grinsend. »Du musst wirklich sehr hungrig gewesen sein. Aber das ist ja eigentlich auch kein Wunder, nach all der Zeit.«

»All der Zeit?« Kim sah Grendel fragend an und blickte dann zum Fenster. Auch in diesem Zimmer waren alle Läden vorgelegt, aber er glaubte nicht, dass es schon später als Mittag war.

»Du hast drei Tage und Nächte geschlafen«, sagte Grendel, der seinen Blick bemerkt und richtig gedeutet hatte.

Kim riss erstaunt die Augen auf. »Drei -?«

»Du hattest hohes Fieber«, fuhr Grendel fort. »Ich war für eine Weile in großer Sorge um dich. Ich glaube, der Bolzen war vergiftet.«

»Und Sie haben mich die ganze Zeit über gepflegt?«

»Das war das Mindeste, was ich tun konnte«, antwortete Grendel. »Du hast mir das Leben gerettet. Wenn du nicht gekommen wärst, dann hätten sie mich wahrscheinlich getötet.«

»Und ohne Sie wäre ich jetzt wahrscheinlich tot«, sagte Kim. Grendel schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht viel dazu getan«, sagte er. »Deine kleine Freundin da.« Er deutete auf Twix. »Ohne sie hätte ich es nicht geschafft. Wie ich bereits sagte: Der Bolzen war vergiftet.«

»Du?« Kim starrte Twix an. Die Elfe kicherte und schlug mit den Flügeln und goldener Staub senkte sich auf Kims linke Schulter. Vielleicht war es Einbildung - aber es kam ihm so vor, als wäre der Schmerz jetzt schon nicht mehr so schlimm. »Ich sehe es«, fuhr Grendel kopfschüttelnd fort, »und trotzdem fällt es mir schwer, es zu glauben. Ich hätte nie zu hoffen gewagt, so etwas noch einmal zu sehen.«

»Eine Elfe?«, fragte Kim.

Grendel schüttelte abermals den Kopf. »Einen Jungen wie dich, zusammen mit einem magischen Wesen«, sagte er. »Der Zauber ist rar geworden in unserer Welt. Warum hast du mir geholfen?«

Die Frage kam so unvermittelt, dass Kim sie im ersten Moment nicht einmal wirklich verstand. »Wieso?«, murmelte er. Die ehrliche Antwort wäre gewesen, dass er es nicht wusste. Er hatte einfach reagiert, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Stattdessen sagte er: »Ich konnte doch nicht einfach zusehen, wie sie ihr grausames Spiel mit Ihnen trieben.«