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»Jeder andere an deiner Stelle hätte es getan«, antwortete Grendel düster. »Oder er hätte mitgemacht.«

»Bestimmt nicht jeder«, widersprach Kim, aber Grendel blieb bei seiner Meinung.

»Jeder in deinem Alter«, sagte er. »Du bist jung.«

Zu Kims Enttäuschung machte er keine Anstalten, diese Behauptung irgendwie zu erklären, aber sein Gesicht hatte sich weiter verdüstert, während er sprach. Offensichtlich bereitete ihm das, worüber er redete, großes Unbehagen. Kim lagen mindestens eine Million Fragen auf der Zunge, aber er stellte in diesem Moment keine einzige davon. So schwer es ihm auch fiel, spürte er doch, dass er im Moment sehr vorsichtig sein musste. Grendel war innerlich nicht annähernd so ruhig, wie er sich gab. Statt also noch weiter in den alten Mann zu dringen, zwang er sich zu einem - leicht verunglückten - Lächeln und fragte betont beiläufig: »Ich hatte ... noch einen Begleiter.«

»Dieses kleine grünhaarige Scheusal?« Grendel sah ihn fragend an. Packs Fell war zwar unbedingt grün, aber ansonsten passte die Beschreibung hundertprozentig.

»Ich habe ihn davongejagt«, fuhr Grendel fort. »Du hast komische Freunde.«

»Manchmal kann man sie sich nicht aussuchen«, antwortete Kim. »Und wir sind auch nicht direkt Freunde.« Er kam sich bei diesen Worten nicht ganz ehrlich vor, aber immerhin war Pack ja nicht da und konnte ihn somit auch nicht hören.

Grendel zog die linke Augenbraue hoch, sagte aber nichts mehr, sondern brach sich ein kleines Stück Brot ab und begann darauf herumzukauen. Kim hatte nicht den Eindruck, dass er wirklich hungrig war. Vielmehr schien Grendel darauf zu warten, dass er nun von sich aus zu erzählen begann. Als eine Minute verstrich, ohne dass dies geschah, und bald darauf noch eine und noch eine, fragte er: »Wie ist dein Name, Junge, und woher kommst du?«

»Kim«, antwortete Kim.

Seltsamerweise lächelte Grendel, als er dies hörte, und Kim fragte: »Was ist daran so komisch?«

»Oh, nichts«, sagte Grendel. »Aber alle nennen ihre Söhne Kim, seit damals.«

»Damals?«

»Jetzt sag nicht, dass du nicht von dem Helden aus der Schlacht um Gorywynn gehört hast«, sagte Grendel. »Immerhin haben deine Eltern dich nach ihm genannt.« Er seufzte und wieder trat dieser sonderbare, bittere Ausdruck in seine Augen. Sehr viel leiser und fast nur an sich selbst gewandt fuhr er fort: »Manchmal wünschte ich mir, er wäre wieder hier. Vielleicht wäre dann alles anders geworden.«

»Ich habe meine Eltern kaum gekannt«, log Kim. »Wer war dieser Junge, dessen Name ich trage?«

»Du musst wirklich von sehr weit her kommen, Junge«, sagte Grendel kopfschüttelnd. »Jeder hier kennt die Geschichte von Kim und seiner Schwester Rebekka. Sie wurde vom Herrscher des Schattenreiches gefangen gehalten, weißt du? Kim war ein ganz normaler Junge, aber er stellte sich allein den finsteren Heerscharen aus Morgon entgegen. Und er hat sie ganz allein besiegt.«

Es lag Kim auf der Zunge zu antworten, dass er in Wahrheit nicht ganz so allein gewesen war, aber er schluckte die Bemerkung in letzter Minute herunter. Die Verlockung, Grendel zu erklären, dass er die Legende von Kim nicht nur sehr gut kannte, sondern sie am eigenen Leib erlebt hatte, war ziemlich groß, aber er sah auch ein, dass es im Moment wohl klüger war, dieses Geheimnis noch für sich zu behalten.

»Ich glaube, ich ... sollte mich jetzt besser wieder auf die Beine machen«, sagte er zögernd. »Ich habe noch einen ziemlich weiten Weg vor mir.«

Grendel blickte ihn eine Sekunde lang verblüfft an, dann begann er schallend zu lachen.

»Was ist daran so komisch?«

»Du wirst nirgendwo hingehen, Junge«, antwortete Grendel. »Nicht in den nächsten Tagen. Ich bin kein Heilkundiger, aber ich erkenne eine schwere Verletzung, wenn ich sie sehe. Du brauchst mindestens noch eine Woche Ruhe.«

»Das ist unmöglich«, widersprach Kim. »Ich muss nach Gorywynn.«

»Das ist wirklich ein weiter Weg«, bestätigte Grendel. »Aber du wirst es nicht schaffen, wenn du dich überanstrengst. Außerdem streifen immer noch Patrouillen der Jungen durch die Gegend. Ich glaube, sie suchen dich.«

»Mich?«

»Sie waren nicht sehr begeistert darüber, was du mit ihren Kameraden angestellt hast«, antwortete Grendel, wobei sich in seine Stimme ein Ausdruck unüberhörbarer Schadenfreude schlich. »Aber ich glaube, das ist nicht der einzige Grund.«

»Wieso?«

Grendel zuckte mit den Schultern, aber es wirkte irgendwie nicht echt. »Ich rede nicht viel mit ihnen«, antwortete er. »Aber man hört so das eine oder andere. Es heißt, sie suchen einen Verräter, der aus dem Osten gekommen ist.«

»Oh«, sagte Kim. So schnell änderten sich die Dinge. Vor einer Minute war er noch ein Held gewesen, um dessen Namen sich Legenden rankten. Jetzt galt er als Verräter. »Ein Verräter?«

»Ein Junge, der die neue Ordnung nicht anerkennt«, bestätigte Grendel. Er versuchte möglichst gleichmütig zu klingen, aber Kim entging nicht, dass er ihn bei diesen Worten sehr aufmerksam im Auge behielt. Schließlich fragte er geradeheraus: »Bist du dieser Junge?«

»Vielleicht«, sagte Kim leise. »Ich meine: Wenn ich wüsste, wie diese neue Ordnung aussieht, dann könnte ich die Frage vielleicht besser beantworten.«

Grendel lächelte und brach sich ein weiteres Stück Brot ab. »Du bist der, den sie suchen«, sagte er. »Keine Angst - ich werde dich nicht verraten. Immerhin verdanke ich dir mein Leben. Wenn du nicht gekommen wärst... Du hast einen Zauberbogen benutzt, nicht wahr?«

Kim nickte. »Ich glaube schon. Aber ich wusste vorher selbst nicht, dass es einer ist.«

»Anscheinend weißt du ohnehin ziemlich wenig«, sagte Grendel mit gutmütigem Spott, aber Kim blieb ernst.

»Das stimmt«, sagte er. »Ich komme von sehr weit her, wissen Sie? Ich weiß nicht, was hier geschieht. Als ich Sie getroffen habe, da war ich ehrlich gesagt auf der Suche nach jemandem, der es mir erklären könnte.«

»So einfach ist das nicht«, sagte Grendel. »Aber ich werde es gerne versuchen. Nur jetzt nicht. Wir haben viel Zeit.« Er stand auf. »Ich muss arbeiten. Es wird einige Stunden dauern, bis ich zurück bin. Fühl dich wie zu Hause - aber geh bitte nicht nach draußen. Es wäre nicht gut, wenn man dich hier sieht.«

Kim schwieg. Grendels Worte erfüllten ihn mit jäh aufkeimendem Misstrauen, aber er sagte nichts. Nach dem, was er mit Turock erlebt hatte, war es nur verständlich, dass er so reagierte. Wahrscheinlich tat er Grendel damit bitter Unrecht. Immerhin hatte der alte Mann ihn drei Tage lang gepflegt, ihm vielleicht sogar das Leben gerettet.

All dies hinderte Kim jedoch nicht daran, das zu tun, wovon Grendel ihm so dringlich abgeraten hatte, kaum dass er allein war: Er ging zur Tür, zögerte noch einmal und drückte dann mit einer entschlossenen Bewegung die Klinke hinunter.

Kim wusste selbst nicht genau, was er eigentlich erwartet hatte, doch vor ihm lag eine ganz normale, wenn auch sehr kleine Ortschaft.

Und eine sehr verlassene Ortschaft dazu. Das halbe Dutzend kleiner Gebäude, das er von seinem Standort aus sehen konnte, war von seinen Bewohnern verlassen und stand leer. Türen standen offen, in vielen Fenstern fehlte das Glas und in einigen der kleinen Katen hatte es gebrannt; die Strohdächer waren verschwunden und die Dachsparren zu einem schwarzen Gerippe verkohlt. Die Stille war schon fast unheimlich. Kim konnte regelrecht spüren, dass es in weitem Umkreis nichts Lebendes mehr gab. Grendels Warnung kam ihm plötzlich fast absurd vor. Wer sollte ihn sehen, wenn es weit und breit niemanden gab, der ihn sehen konnte?