Aber er sah auch etwas, was ihn ungemein beruhigte: Hinter den verlassenen Häusern erstreckte sich nichts als die endlose wogende Steppe, die typisch für diesen Teil des Landes war. Kein magischer Wald, in dem er eingesperrt war, und auch keine andere Barriere. Sein Misstrauen war unbegründet gewesen.
Derart beruhigt ging Kim wieder ins Haus zurück und legte sich hin; eigentlich nur, um ein wenig auszuruhen, aber natürlich schlief er praktisch auf der Stelle ein. Als er wieder erwachte, war es draußen dunkel geworden. Nur der schwache, goldfarbene Schimmer, der von Twix' Flügeln ausging, erfüllte noch den Raum. Es war aber nicht stilclass="underline" Er konnte Grendel im Nebenzimmer rumoren hören, und als er sich aufsetzte, sah er einen dünnen leuchtenden Streifen, der unter der Tür hindurchschimmerte.
Kim war immer noch müde. Trotzdem stand er vollends auf, wickelte sich wieder in seine Decke und verließ das Zimmer. Grendel war nebenan damit beschäftigt, hektisch durch das Zimmer zu stapfen, hier und da etwas in die Hand zu nehmen und wieder wegzulegen, Schubladen zu öffnen, Truhendeckel hochzuheben und wieder zuzuwerfen.
Kim sah ihm eine Weile verständnislos bei seinem Treiben zu, dann fragte er: »Was tun Sie?«
Grendel hielt mitten in der Bewegung inne und drehte mit einem Ruck den Kopf. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er einen Stapel säuberlich zusammengelegter Kleider im Arm.
»Hier«, sagte er und reichte sie Kim. »Die müssten dir eigentlich passen. Ihr hattet ungefähr die gleiche Größe.«
Kim sah Grendel fragend an, griff aber wortlos nach den Kleidern und faltete sie auseinander. Es handelte sich um schmal geschnittene Hosen aus braunem, seidenweichem Leder, dazu passende Stiefel aus demselben Material, ein weißes Hemd und eine dünne lederne Weste - abgesehen von dem fehlenden weißen Umhang die typische Kleidung eines Steppenreiters. Sie hatten tatsächlich nicht nur ungefähr, sondern perfekt seine Größe. Als Kim hineinschlüpfte, hatte er das Gefühl, als wären diese Kleider ganz allein für ihn gemacht.
»Vielen Dank«, sagte er, während er die Schlinge wieder überstreifte und seinen verletzten Arm vorsichtig hineinlegte. »Das sind wunderschöne Kleider.«
Grendel sah ihn auf sonderbare Weise an. »Sie haben meinem Sohn gehört«, sagte er leise. »Er ist fort, schon seit langer Zeit.«
Die Art, auf die er das sagte, machte Kim klar, dass er nicht weiter über das Thema reden wollte. Kim respektierte das. Er spürte den Schmerz, den Grendel allein bei diesem Anblick empfand.
»Ich habe Neuigkeiten«, fuhr Grendel nach einer Weile und mit festerer Stimme fort. »Sie suchen dich tatsächlich, aber du bist nicht in Gefahr. Sie glauben, dass du bereits weitergezogen bist.«
»Und wenn sie hierher kommen?«, fragte Kim. »Ich möchte nicht, dass Sie in Gefahr geraten ... meinetwegen.«
»Niemand wird mir etwas tun«, behauptete Grendel. »Du bist hier sicher. Kurier deine Wunde aus und in einer Woche oder zwei, wenn du wieder zu Kräften gekommen bist, kannst du Weiterreisen. Du willst nach Gorywynn, sagst du?«
»Ja.«
»Das ist ein weiter Weg.« Grendel machte ein nachdenkliches Gesicht. »Zwei Wochen, mit einem schnellen Pferd, wenn nicht drei. Und auch das nur, wenn du den Strapazen einer solchen Reise überhaupt gewachsen bist.«
»Deshalb kann ich ja nicht so lange bleiben«, antwortete Kim eindringlich. »Ich muss in die gläserne Stadt, so schnell wie möglich.«
Grendel schüttelte seufzend den Kopf. »Warum könnt ihr Jungen nicht einfach einmal zuhören?«, fragte er. »Ich wollte dir gerade erklären, dass in einer Woche ein Fährschiff hier vorbeikommt, das nach Gorywynn fährt. Sie nehmen eigentlich keine Passagiere mit, aber wenn ich ein gutes Wort für dich einlege, werden sie sicher eine Ausnahme machen. Du kannst morgen bei Sonnenaufgang losreiten, wenn du das willst. Vielleicht schaffst du es wirklich bis Gorywynn, aber vielleicht stirbst du auch unterwegs oder fällst denen in die Hände, die nach dir suchen. Oder du bleibst hier, bis das Schiff kommt, und erreichst Gorywynn in derselben Zeit, nur viel sicherer und bequemer.« Er hob die Schultern. »Es ist deine Entscheidung. Heute Nacht kannst du jedenfalls nicht weiter.«
Grendel öffnete einen Schrank, nahm ein hölzernes Tablett mit Brot und nicht mehr ganz frischem, aber noch genießbarem Obst hervor und bedeutete Kim mit einer Kopfbewegung, am Tisch Platz zu nehmen. Kim gehorchte, doch als auch sein Gastgeber selbst Platz nehmen wollte, erscholl an der Tür ein scharrendes Geräusch.
Grendel richtete sich alarmiert auf, machte eine rasche Geste in Kims Richtung, sich nicht zu rühren, und eilte mit raschen Schritten zur Tür. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern drückte er die Klinke herunter und riss die Tür auf.
Draußen stand der Pack, der gerade die Hand gehoben hatte um erneut an der Tür zu kratzen und offensichtlich ebenso überrascht war wie sein Gegenüber. Aber Grendel überwand seine Verblüffung weit schneller; wenn auch auf eine Art, mit der Kim am allerwenigsten gerechnet hätte.
Der alte Mann schrie wütend auf, prallte einen halben Schritt zurück und trat nach dem Pack. Der Kobold versuchte dem Angriff zwar auszuweichen, aber er war viel zu langsam. Er wurde getroffen und flog in hohem Bogen und kreischend davon.
»Nein!«, schrie Kim. »Grendel! Nicht!«
Grendel schien seine Worte gar nicht zu hören. Mit einem Wutschrei stürzte er aus dem Haus und hinter dem Pack her. Kim hörte ihn draußen brüllen, unterbrochen vom wütenden Keifen und Schnattern des Pack.
Er sprang auf, eilte um den Tisch herum, kam aber nur zwei oder drei Schritte weit, denn plötzlich schoss ein jäher, so heftiger Schmerz durch seine Schulter, dass ihm übel wurde und er hastig an der Tischkante Halt suchte.
Mit letzter Kraft schleppte er sich zu seinem Platz zurück, ließ sich darauf niedersinken und atmete konzentriert ruhig und tief ein und aus. Alles drehte sich um ihn. Für einige Augenblicke hatte er ernsthaft Angst, wieder das Bewusstsein zu verlieren.
Als sich seine Gedanken wieder klärten, da war Grendels Geschrei draußen verstummt und im Haus herrschte eine fast unheimliche Stille. Er war vollkommen allein. Nicht einmal Twix war zu sehen.
Kim richtete sich behutsam auf, wartete darauf, dass die Übelkeit zurückkam, und stellte erleichtert fest, dass das nicht geschah. Seine Schulter tat allerdings immer noch weh. Als die Elfe in seiner Nähe gewesen war, war es nicht so schlimm gewesen. Er hätte fast Twix' Namen gerufen, besann sich aber dann doch eines Besseren. Nach jemandem zu rufen, der ihm eigentlich gehörig auf die Nerven ging, wäre ihm selbst albern vorgekommen.
Er richtete sich weiter auf, schwang die Beine aus dem Bett und wollte gerade ganz aufstehen, als er das Kratzen hörte, einen sachten, aber durchdringenden Laut; und einen von der unangenehmen Sorte. Wie Kreide auf einer Schiefertafel oder eine Gabel auf einem Topfboden.
Das Geräusch kam vom Fenster. Kim drehte sich herum und runzelte verwirrt die Stirn. Ein langer, ein wirklich sehr langer, dünner weißer Finger mit entschieden zu vielen Gelenken kratzte von außen an der Scheibe. Er war länger als Kims Arm und nur einen Moment später gesellten sich ein zweiter und dritter Finger hinzu, die mit scharrenden Geräuschen über das Glas fuhren.
Und natürlich waren es keine Finger.
Kim stand auf, öffnete mit einem Ruck das Fenster und starrte mit dem finstersten Gesichtsausdruck hinaus, den er zustande brachte. »Was willst du?«
»Na, du kannst vielleicht Fragen stellen!«, keifte die Spinne. »Ist das deine Art, alte Freunde zu begrüßen? Da renne ich mir fast die Beine in den Hintern um dich einzuholen und dein einziger Kommentar ist: Was willst du?!«
»Wir sind keine Freunde«, sagte Kim.
»Stimmt«, antwortete die Spinne. »Freunde lassen einander nicht verhungern. Und schon gar nicht erfrieren. Lass mich rein!«
Sie wartete seine Antwort auf dieses Ansinnen gar nicht erst ab, sondern begann unverzüglich an der Wand emporzukrabbeln. Kim prallte zurück. Griff rasch nach dem Fensterflügel und knallte ihn so heftig zu, dass die Spinne entsetzt die Beine zurückzog und zu Boden fiel. Was Kim schon einmal festgestellt hatte, bestätigte sich: Sie war wirklich nicht besonders geschickt.