»Kommt nicht in Frage«, sagte er, nachdem er das Fenster wieder geöffnet hatte. »Du kannst hier nicht rein.«
Die Spinne antwortete nicht gleich. Sie war voll und ganz damit beschäftigt, ihre Beine zu entwirren. Während sie das tat, nutzte Kim die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten.
Es war sonderbar: Früher hatte er sich vor Spinnen immer ein wenig geekelt, aber davon war nun nichts mehr geblieben. Im Gegenteil. Ob er es wollte oder nicht, er musste zugeben, dass die langen, schlanken Beine und das seidig glänzende Fell dem Tier eine gewisse Eleganz verliehen - auch wenn sie sich alles andere als elegant bewegte. Er fragte sich nur, wer sich verändert hatte: Die Spinne oder seine Art, sie zu sehen.
»Du bist nicht nett«, sagte die Spinne, nachdem sie endlich wieder auf allen acht Beinen stand und zu ihm heraufstarrte. »Was willst du?«, fragte Kim zum wiederholten Mal.
»Na, du bist gut!«, sagte die Spinne. »Das fragst du im Ernst? Ich bin fast verhungert!«
»Und was kann ich dafür?«
»Immerhin hast du zusammen mit deinen sauberen Freunden mein Netz zerstört«, sagte die Spinne. »Also ist es deine Schuld, dass ich mir nichts mehr zu Essen fangen kann.«
»Wenn du gekommen bist um mich zu essen, muss ich dich enttäuschen«, seufzte Kim.
»Dich?« Die Spinne klang regelrecht empört. »Na hör mal! Was hältst du von mir?«
»Willst du das wirklich wissen?«
Die Spinne blinzelte mit drei oder vier Augen zugleich und wechselte das Thema. »Tatsache ist, dass ihr mein Netz zerstört habt«, beharrte sie. »Und ich kann mir auch kein neues bauen. Also bist du schuld, dass ich hungern muss.«
»Du kannst mich trotzdem nicht fressen«, sagte Kim.
»Das habe ich auch gar nicht vor! Ich fresse doch niemanden, mit dem ich mich unterhalten habe ... Aber du könntest mir die Elfe geben.«
»Wie bitte?«, fragte Kim überrascht.
»Ich hatte sie schon«, sagte die Spinne. »Du hast sie mir gestohlen. Wo ist sie überhaupt?« Ihre Stimme wurde lauernd. »Hast du sie am Ende etwa selbst gegessen? Das wäre hundsgemein!«
»Das wäre allerhöchstens Mundraub«, grinste Kim. »Aber ich kann dich beruhigen. Ich esse keine Elfen. Und außerdem -« Er hörte ein Geräusch im Nebenzimmer, warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück und fuhr leise und in gehetztem Ton fort: »Grendel kommt! Verschwinde! Er darf dich nicht sehen!«
»Aber ich habe -«
Kim knallte das Fenster zu und ließ sich wieder aufs Bett sinken und im selben Moment ging die Tür auf und Grendel kam herein. Er sah sehr müde aus, fragte aber übergangslos: »Mit wem hast du geredet?«
»Geredet?«
Grendel nickte bekräftigend. Er sah sehr misstrauisch drein. »Ich habe es ganz genau gehört. Du hast mit jemandem gesprochen.«
»Ach so«, sagte Kim. »Das. Es war nur eine Spinne.«
»Eine Spinne?« Grendel blinzelte.
»Es ist ziemlich langweilig hier«, sagte Kim achselzuckend. Er musste sich beherrschen um nicht zum Fester hochzusehen und schickte gleichzeitig ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Spinne nicht ausgerechnet jetzt wieder an der Scheibe kratzte. Grendel würde glatt der Schlag treffen, wenn plötzlich eine medizinballgroße, weiße Riesenspinne an sein Fenster klopfte und um etwas zu essen bat.
»Ja, das kenne ich«, sagte Grendel. »Manchmal ist es wirklich sehr einsam hier.« Er lachte leise. »Ich habe mich schon dabei ertappt, mit den Möbeln zu reden.«
»Wieso bleiben Sie hier?«, fragte Kim impulsiv. »Ich meine: Wenn doch alle weggegangen sind?«
»Jemand muss schließlich die Arbeit tun«, sagte Grendel achselzuckend, erklärte aber nicht, um was für eine Art von Arbeit es sich handelte, sondern wechselte übergangslos das Thema: »Ich habe Neuigkeiten vom Handelsboot. Es kommt in genau sechs Tagen vorbei. Zeit genug für dich deine Schulter auszukurieren. Ich bin jetzt müde und muss ein wenig schlafen, aber morgen früh können wir uns unterhalten. Du hast doch bestimmt eine Menge interessanter Geschichten zu erzählen.«
»Es geht«, sagte Kim ausweichend. Irgendetwas stimmte nicht mit Grendel. Der alte Mann war ungewohnt redselig. Sein Blick irrte unentwegt durch den Raum, suchte jeden Winkel, jede noch so kleine Ecke ab. Er sah wirklich in jede Richtung. Nur nicht zum Fenster ...
Hatte er etwas gemerkt?
»Also, ich geh jetzt zu Bett«, sagte Grendel noch einmal. »Gute Nacht.«
Kim antwortete mit einem Kopfnicken und wartete, bis Grendel den Raum verlassen und die Tür hinter sich zugezogen hatte. Dann aber sprang er auf und war mit einem einzigen Satz am Fenster. Hastig riss er es auf.
»Spinne«, flüsterte er. »Wo bist du?«
»Wo soll ich schon sein?«, nörgelte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Ich sitze hier und habe Hunger! Eigentlich hättest du das Knurren meines Magens hören -«
»Hör mit dem Unsinn auf!«, unterbrach sie Kim. »Du musst dich verstecken! Schnell! Grendel kommt!«
»Ist er groß?«, fragte die Spinne hoffnungsvoll.
»Nein«, antwortete Kim. »Aber sehr alt und ziemlich zäh. Versteck dich! Er darf dich auf keinen Fall sehen!«
Er bekam keine Antwort, aber er hatte kaum zu Ende gesprochen, da näherten sich Schritte und Grendel kam in raschem Tempo um die Ecke gebogen. In der rechten Hand hielt er einen armlangen Knüppel.
»Dachte ich es mir doch!«, sagte er in einem Ton, der zwischen Triumph und Ärger schwankte. »Du hast also nur mit einer Spinne gesprochen, wie?«
»Aber ich -«
»Lüg mich nicht an, verdammter Bengel!«, unterbrach ihn Grendel. »Es war dieses kleine haarige Scheusal, das ständig um das Haus schleicht, habe ich Recht?«
»Du meinst den Pack?« Kim war erleichtert. Grendel hatte die Spinne offenbar nicht gesehen.
»Es ist mir egal, wie du ihn nennst«, grollte Grendel. »Ich will ihn hier nicht haben. Diese kleinen Scheusale bringen nur Ärger!«
»Pack ist mein Freund«, widersprach Kim. »Er hat mir das Leben gerettet und -«
Grendel schnitt ihm mit einer herrischen Bewegung das Wort ab: »Unsinn! Solange du unter meinem Dach wohnst, wirst du tun, was ich sage. Wenn ich deinen haarigen Freund noch einmal hier sehe, schlage ich ihm den Schädel ein, basta!«
Und damit ging er. Kim sah ihm verdattert nach, bis er wieder hinter der Hausecke verschwunden war. Grendels Wutausbruch war nicht nur vollkommen überraschend gekommen, er verstand ihn auch nicht. Soweit er wusste, hatte der Pack dem alten Mann nichts getan.
Die Spinne trippelte aus der Dunkelheit heran und blickte versonnen in die Richtung, in der Grendel verschwunden war. »Du hast gelogen«, sagte sie.
»Wie?«
»Er sieht nicht zäh aus. Er reicht mindestens für zwei oder drei Wochen.«
Kim seufzte. »Spinne«, sagte er, »du kannst nicht... wie heißt du eigentlich? Ich finde es lästig, dich immer nur Spinne zu nennen.«
»Heißen?«
»Dein Name«, erklärte Kim.
»Name?« Die Spinne überlegte einen Moment. »Ich habe keinen Namen«, sagte sie dann.
»Quatsch«, behauptete Kim. »Jeder hat einen Namen.«
»Ich nicht«, sagte die Spinne. »Wozu brauche ich einen Namen? Niemand spricht mit mir.«
Der letzte Satz klang ein wenig traurig, fand Kim. »Also gut, dann eben nicht«, sagte er. »Aber das ändert nichts daran, dass du nicht jeden auffressen kannst, den du siehst.«
»Jeden? Jetzt übertreib aber mal nicht!«
»Ich gebe dir nachher etwas zu essen«, sagte Kim. »Ich finde bestimmt ein Stück Brot oder etwas Obst -«