Kim war nicht gerade ungeschickt, aber während der zwei Tage, die er heimlich in der Werkstatt verbrachte, war er mehr als einmal nahe daran einfach aufzugeben. Seine verletzte Schulter machte die Sache auch nicht gerade leichter.
Schließlich aber hatte er es geschafft. Ein paar Stunden vor Sonnenaufgang des vierten Tages schlich er aus dem Haus und zum Fluss und machte sich an die Arbeit. Twix hockte wie fast immer auf seiner Schulter und selbst die Spinne hatte sich bereit erklärt sie zu begleiten und darauf Acht zu geben, dass Grendel sie nicht überraschte; auch wenn Kim argwöhnte, dass sie wohl eher mitkam um die Elfe im Auge zu behalten. Den Pack hatte er seit dem Abend, an dem Grendel ihn davongejagt hatte, nicht mehr gesehen.
Kim beeilte sich, so gut er konnte. Als die Spinne auf ihren langen Beinen herangeflitzt kam um ihn vor Grendels Herannahen zu warnen, war er nicht nur fertig, sondern fand sogar noch Zeit, sich gemächlich am Ufer auszustrecken und einen Grashalm zwischen die Lippen zu nehmen, so als läge er schon eine ganze Weile hier herum und langweile sich.
Grendel kam in gewohnt scharfem Tempo heran, verhielt dann plötzlich mitten im Schritt und runzelte überrascht die Stirn. Eigentlich sah er sogar ein bisschen erschrocken drein, fand Kim.
»Was ... machst du denn hier?«, fragte er.
Kim stemmte sich auf die Ellbogen hoch, nahm den Grashalm aus dem Mund und schauspielerte ein Gähnen. »Ich konnte nicht schlafen«, sagte er, »deshalb habe ich ein wenig gebastelt um mir die Zeit zu vertreiben.«
Er stand auf, schlenderte an Grendel vorbei und sprang mit einem kurzen Satz auf das Floß. Grendel sah ihm nach und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er die Konstruktion sah, die Kim in den letzten Stunden angebracht hatte.
»Was ist das?«, fragte er scharf.
Kim grinste und legte die linke Hand auf den einfachen Flaschenzug, den er an Grendels Floß angebracht hatte. »Also, ich gebe zu, die Konstruktion sieht ein bisschen abenteuerlich aus, weil ich sie aus dem Gedächtnis nachbauen musste, aber sie funktioniert.«
»Was ist das, habe ich gefragt«, sagte Grendel.
Sein Ton überraschte Kim. Er klang nicht verblüfft oder gar erfreut, sondern beinahe ... wütend!
»Das ist ein Flaschenzug«, antwortete Kim leicht verwirrt. »Da, wo ich herkomme, benutzt man sie um schwere Lasten zu heben, aber sie funktionieren auch in der Horizontalen. Du kannst damit -«
»Wer hat dir erlaubt, das anzubringen?«, unterbrach ihn Grendel. »Mach es ab!«
»Ich wollte dir nur helfen«, sagte Kim verständnislos.
»Indem du mein Floß zerstörst?«
»Ich habe nur beobachtet, wie schwer es dir gefallen ist, das Floß über den Fluss zu ziehen«, antwortete Kim. »Ich habe nichts kaputt gemacht, wenn du das meinst. Damit geht es viel leichter. Warte, ich zeige es dir!«
Er griff nach dem Seil und zog mit nur einer Hand daran und das Floß setzte sich zwar langsam, aber auch beinahe mühelos in Bewegung. »Siehst du?«, fragte er triumphierend.
»Hör sofort auf!«, schrie Grendel. Außer sich vor Wut sprang er zu Kim auf das Floß. »Verschwinde!«, schrie er. »Verschwinde sofort von meiner Fähre und nimm deinen ... neumodischen Kram mit!«
Er riss und zerrte mit aller Kraft an der Konstruktion aus Seilrollen und Kabeln, die Kim am Floß angebracht hatte, war aber so aufgeregt, dass es ihm nicht gelang, sie ernsthaft zu beschädigen.
»Aber ...«, begann Kim hilflos. »Aber ich wollte dir doch nur-«
»Es ist mir gleich, was du wolltest!«, fuhr Grendel ihn an. Er hörte auf an Kims Flaschenzug herumzuzerren, fuhr plötzlich herum und versetzte Kim einen Stoß, der ihn rücklings über das Floß taumeln und beinahe stürzen ließ.
»Runter von meinem Floß!«, schrie er außer sich vor Zorn. »Diese Fähre hat schon meinem Urgroßvater gehört! Sie hat seinen Lebensunterhalt gesichert, den meines Großvaters und meines Vaters und auch meinen und nie musste irgendetwas daran verändert werden! Ich dulde es nicht! Geh ins Haus zurück! Sofort!«
Aus seinem Zorn war mittlerweile rasende, kaum noch zu bezähmende Wut geworden und in seinen Augen flackerte etwas, was beinahe an Hass grenzte. Auf jeden Fall hielt es Kim nachhaltig davon ab, das Gespräch fortzuführen oder Grendel gar noch einmal darauf hinzuweisen, dass er ihm nur einen Gefallen tun wollte. Stattdessen zog er es vor, sich rasch herumzudrehen und an das Ufer zu springen.
Bevor er über die Deichkrone stürmte, sah er noch einmal zur Fähre hinab. Das Floß war bereits ein gutes Stück auf den Fluss hinausgetrieben und Grendel war noch immer dabei, wie von Sinnen an der Flaschenzug-Konstruktion herumzureißen, die Kim so mühsam angebracht hatte.
Was um alles in der Welt hatte er nur falsch gemacht?
Grendel kam erst am späten Nachmittag zurück. Er sagte kein Wort, sondern maß Kim nur mit finsteren Blicken und trat dann immer noch wortlos an den Herd um eine Mahlzeit zuzubereiten. Kim konnte den Groll, den der alte Mann ausstrahlte, regelrecht fühlen - aber er verstand ihn einfach nicht. Den ganzen Tag lang hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, was er denn falsch gemacht haben konnte, aber er konnte es sich einfach nicht erklären.
Grendels Laune war auf jeden Fall noch immer so miserabel, dass er es nicht wagte, ihn anzusprechen, sondern es vorzog, nach ein paar Minuten aufzustehen und sich in sein Zimmer zu trollen.
Eine weitere halbe Stunde verging, in der er Grendel draußen in einer Lautstärke hantieren hörte, die mehr als genug über seine Laune aussagte. Dann aber öffnete Grendel - noch immer wortlos - die Tür und bedeutete Kim zum Essen zu kommen.
Kim hatte überhaupt keinen Appetit, aber er wollte Grendel nicht noch mehr verärgern. Also stand er auf, folgte seinem sonderbaren Wohltäter und nahm an dem bereits gedeckten Tisch Platz.
Sie aßen schweigend, aber schließlich hielt es Kim nicht mehr aus. »Grendel, ich möchte dir etwas sagen«, begann er.
Grendel starrte ihn über den Rand seines Löffels hinweg an, schwieg aber.
»Ich werde gehen«, sagte Kim geradeheraus. »Meine Schulter ist schon wieder ganz in Ordnung, sodass ich reisen kann. Ich habe deine Gastfreundschaft lange genug in Anspruch genommen.«
»Das ist dumm«, sagte Grendel. »Das Boot kommt in zwei Tagen. Mit dem Pferd würdest du eine Woche brauchen um Gorywynn zu erreichen.« Er legte den Löffel aus der Hand und sah Kim durchdringend und nicht sehr freundlich an. »Es ist wegen heute Morgen, nicht wahr?«
Kim nickte. »Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe«, begann er. »Der Flaschenzug funktioniert. Er hätte dir deine Arbeit sehr erleichtert.«
»Und wer sagt dir, dass ich das will?«, fragte Grendel. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr. »Woher nehmt ihr Jungen euch das Recht, die Welt nach euren Vorstellungen zu gestalten, ganz egal, ob es uns gefällt oder nicht?«
»Aber so war das doch nicht gemeint!«
»O doch, das war es!« Grendel schlug mit der geballten Faust auf den Tisch, sodass Kim erschrocken zusammenfuhr. »Du hast mich nicht einmal gefragt, ob ich das will. Ich wette, du hast nicht einmal darüber nachgedacht, ob ich es möchte! Du hast es einfach getan!«
»Aber doch nur, um dir zu helfen!«
»Ich brauche keine Hilfe!«, sagte Grendel finster. »Ich tue meine Arbeit, wie ich sie immer getan habe, und ich bin zufrieden damit. Man muss nicht alles verändern, nur weil man es kann!«
»Und man muss etwas nicht für alle Ewigkeiten weiter so machen, nur weil man es immer schon so gemacht hat!«, konterte Kim. »Wenn die Menschen immer so gedacht hätten, würden wir heute noch in Höhlen leben!«
Grendel seufzte. »Du bist wie alle anderen«, sagte er. »Ich dachte, du wärst anders, aber ich habe mich wohl geirrt.«
»Dann ist es vielleicht besser, wenn ich gehe«, sagte Kim. Er machte Anstalten aufzustehen und seine Ankündigung auf der Stelle in die Tat umzusetzen, aber Grendel streckte plötzlich die Hand aus und hielt ihn fast grob zurück.