»Warte!«
Kim hätte sich leicht losreißen können, aber Grendel sah ihm auf eine so sonderbare Weise an, dass er sich nach einer Sekunde wieder auf seinen Stuhl sinken ließ.
»Es ... es tut mir Leid«, sagte Grendel. Sein Blick wich dem Kims aus und Kim spürte, wie schwer ihm dieses Eingeständnis fiel.
»Ich war vielleicht ein bisschen heftig«, fuhr Grendel fort. »Aber du musst das verstehen. So ... so hat es angefangen.«
»Was?«, fragte Kim.
»Die Veränderung. Es ist ... es war normal, dass die Jugend ungestüm ist und nach Veränderung strebt und dass die Alten an ihren Werten festhalten. Aber dann fingen sie an die Veränderungen mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Und wir umgekehrt...«
»Ihr habt euch mit Gewalt dagegen gewehrt«, vermutete Kim, als Grendel nicht weitersprach.
Der alte Mann nickte.
»Und dann?«
»Du hast es erlebt«, sagte Grendel.
»Ich habe erlebt, dass sie Krieg gegeneinander führen«, sagte Kim ungläubig. »Aber das ... das ist doch nicht möglich! Was ich gesehen habe, das war ein ausgewachsener Krieg! Ich habe niedergebrannte Städte gesehen und Heere, die sich bis auf den letzten Mann niedergemacht haben! Und das alles völlig grundlos? Das kann nicht sein!«
»Vielleicht gibt es einen Grund«, antwortete Grendel. »Wenn ja, kenne ich ihn nicht. Alle sind geflohen, als der Sturm auf Caivallon begann. Die, die geblieben sind, wurden getötet. Alle außer mir. Weil sie mich brauchen.«
Und endlich verstand Kim. »Niemand will als Fährmann arbeiten, weil die Arbeit so schwer ist«, vermutete er.
Grendel nickte.
»Und mit meinem Flaschenzug -« Könnte jeder die Fähre selbst über den Fluss ziehen, führte er den Satz in Gedanken zu Ende. Er sprach ihn nicht aus, aber er las die Antwort überdeutlich in Grendels Augen. Um ein Haar hätte er mit seiner Hilfe etwas wirklich Schlimmes angerichtet.
»Ich muss wirklich dringend mit Themistokles reden«, sagte er.
»Dann solltest du hier bleiben«, sagte Grendel. »Das Handelsboot ist die schnellste Verbindung von hier nach Gorywynn. Und du könntest mir noch zwei Tage Gesellschaft leisten. Es ist wirklich sehr einsam hier, weißt du?«
Kim überlegte einige Sekunden, aber schließlich nickte er.
Obwohl sie sich mehr oder weniger versöhnt hatten, verlief der Rest des Tages in einer so unangenehmen, angespannten Atmosphäre, dass Kim regelrecht froh war, sich am Abend schlafen legen zu können. Bevor er es tat, warf er noch einen langen, forschenden Blick aus dem Fenster, aber weder von der Spinne noch von dem Pack war auch nur eine Spur zu sehen. Kim fragte sich, ob er den Pack überhaupt noch einmal zu Gesicht bekommen würde. Vielleicht hatte Grendel seinen sonderbaren kleinen Weggefährten ja endgültig verscheucht. Zu seiner eigenen Überraschung empfand er bei dieser Vorstellung ein heftiges Bedauern. Irgendwie hatte er sich mittlerweile an den kleinen Kerl gewöhnt.
Da er sehr früh aufgestanden war, war er müde genug um praktisch auf der Stelle einzuschlafen. Aber auch diese Nacht war sehr viel kürzer als erwartet.
Er erwachte lange vor Sonnenaufgang, weil er einen üblen Traum hatte, in dem er unter einer Steinlawine begraben worden war, deren Tonnengewicht ihm den Atem abschnürte. Ein Teil dieses Traumes folgte ihm hinüber in die Wirklichkeit: Er glaubte jetzt nicht mehr unter Felsmassen begraben zu sein, aber er bekam immer noch kaum Luft. Mit einen Keuchen öffnete er die Augen - und blickte in ein haariges Gesicht mit hässlichen Glubschaugen, einem vorspringenden Unterkiefer und spitzen Ohren.
»Pack!«, murmelte er verschlafen, aber auch angenehm überrascht. »Was machst du denn hier?«
Der Pack legte den Kopf auf die Seite und blinzelte ihn aus seinen kleinen, boshaften Augen an. Kim verstand jetzt immerhin den Grund seines Traumes. Auf seiner Brust lagen keine Felsbrocken, aber das Gewicht des Pack allein reichte schon aus um ihm den Atem abzuschnüren.
»Würdest du vielleicht freundlicherweise von mir runtergehen?«, fragte er kurzatmig. »Am besten, bevor ich erstickt bin?«
Natürlich reagierte der Pack nicht sofort, sondern blieb noch ein paar Sekunden lang reglos auf seiner Brust hocken, ehe er gemächlich von ihm herunterstieg. Er bewegte sich irgendwie ... sonderbar, fand Kim.
Gähnend stemmte er sich auf die Ellbogen hoch, blinzelte ein paar Mal und musterte den Pack aus verschlafenen Augen.
»Ich hätte zwar nicht geglaubt, dass ich das noch einmal sage«, sagte er, »aber ich freue mich, dich zu sehen. Du bist...« Er brach ab und riss die Augen auf. Wenigstens sah er jetzt, warum sich der Pack so sonderbar bewegt hatte ...
»He!«, fragte er. »Was willst du mit der Bratpfanne?«
Es war eine ziemlich dumme Frage.
Nachdem sein Kopf aufgehört hatte wie eine Glocke zu dröhnen, stemmte er sich zum zweiten Mal aus dem Kissen hoch und versuchte die wirbelnden Funken vor seinen Augen wegzublinzeln. Der Pack war um sein Bett gehüpft und hatte sich vorsichtshalber bis zur Tür zurückgezogen. Die Bratpfanne, mit der er ihn geweckt hatte, hielt er noch immer in der rechten Hand.
»Sehr witzig«, maulte Kim. »Das war wirklich ungeheuer komisch. Was sollte das?«
Der Pack warf die Bratpfanne in die Ecke, öffnete die Tür und trippelte hinaus, kam aber nach einem Moment schon zurück und starrte ihn herausfordernd an. Nachdem er dieses Manöver insgesamt dreimal wiederholt hatte, begriff Kim endlich.
»Du willst, dass ich mit dir komme«, sagte er. »Warum? Willst du mir etwas zeigen?«
Der Pack trippelte abermals aus dem Zimmer und kam zurück. Kim, der noch immer leichte Kopfschmerzen hatte, stand auf, schlüpfte rasch in seine Kleider und verließ das Zimmer. Er war nicht besonders überrascht, dass Grendel nicht da war. Wäre der alte Mann zu Hause gewesen, hätte sich Pack vermutlich nie hereingetraut.
»Und jetzt?«, fragte Kim.
Der Pack durchquerte rasch das chaotische Zimmer, öffnete die Haustür und huschte hinaus, nur um gleich darauf wieder zurückzukommen.
»Ich verstehe«, seufzte Kim. »Was hast du da draußen? Eine Fallgrube voller spitzer Stöcke, in die ich hineinstolpern soll?« Trotz dieser Worte folgte er dem Pack nach draußen. Es war wirklich noch sehr früh und entsprechend kalt. Kim schätzte, dass bis zum Sonnenaufgang noch mindestens drei, wenn nicht vier Stunden vergehen würden. Er konnte sich kaum vorstellen, dass Grendel um diese Zeit schon zur Arbeit gegangen war. Wer um alles in der Welt brauchte mitten in der Nacht eine Fähre?
Der Pack führte ihn jedoch geradewegs zum Fluss. Erst als sie nur noch einen Steinwurf vom Deich entfernt waren, blieb er stehen, gestikulierte einen Moment lang heftig zum Fluss hin und verschwand dann in der Dunkelheit.
Durch das sonderbare Verhalten des Pack gewarnt, legte Kim den Rest der Strecke sehr vorsichtig zurück. Auf den letzten Metern ließ er sich sogar auf Hände und Knie nieder, bis er die Deichkrone erreichte.
Er war sehr froh, so vorsichtig gewesen zu sein.
Grendel stand auf der anderen Seite des Deiches am Ufer und er war nicht allein. Im Schein einer blakenden Fackel, die am Geländer seines Floßes befestigt war, zählte Kim vier schlanke Gestalten in weißen Hemden und eng anliegenden, wildledernen Hosen. Keiner von ihnen war älter als Kim.
Und zumindest einen der Jungen kannte Kim.
»Du bist also sicher, dass er nichts gemerkt hat?«, fragte Kai in diesem Moment. »Unterschätz den Burschen nicht. Er ist ziemlich raffiniert.«
»Bestimmt nicht«, versicherte Grendel. Er schien nicht in der Lage, länger als eine Sekunde still zu stehen. Kim konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber seine Stimme verriet Grendels Nervosität umso deutlicher.