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»Ich will es hoffen«, sagte Kai. »Für dich, alter Mann. Du weißt, was passiert, wenn er uns wieder entwischt.«

»Dann siehst du deinen Sohn nie wieder«, fügte einer der anderen Jungen hinzu.

»Wie geht es ihm?«, fragte Grendel rasch. »Wo ist er?«

»Bei uns«, antwortete Kai. »Und da bleibt er auch, bis du deinen Teil der Abmachung eingehalten hast. Es bleibt also dabei: Du sorgst dafür, dass er auf das Schiff geht. Sobald wir ihn haben, schicken wir deinen Sohn zu dir zurück.«

Kim hatte genug gehört. Vorsichtig schob er sich rücklings die Böschung hinab, richtete sich auf und lief schnell, aber so gut wie lautlos, weit genug davon um vor einer zufälligen Entdeckung sicher zu sein.

Seine Gedanken waren in hellem Aufruhr. Er weigerte sich einfach zu glauben, dass Grendel ihn derartig hintergangen haben sollte. Aber was er gehört hatte, das ließ keinen Zweifel aufkommen: Das Fährboot, von dem Grendel seit einer Woche sprach, war eine Falle.

Er ging zum Haus zurück, war aber viel zu aufgeregt um sich wieder schlafen zu legen. Er hätte es gar nicht gewagt, schon aus Angst, dass Grendel es sich vielleicht anders überlegen und auf Nummer sicher gehen könnte, indem er etwa gleich mit Verstärkung zurückkam oder ihn fesselte und knebelte, damit er nicht im letzten Moment noch floh.

Vielleicht sollte er genau das machen, überlegte er. Er sollte einfach seine Sachen packen und verschwinden, am besten, noch bevor Grendel von seinem konspirativen Treffen zurückkam.

Er war zutiefst enttäuscht. Er hatte Grendel gewiss nicht für einen Freund gehalten, aber von ihm derart verraten zu werden, das war hart. Trotzdem konnte er Grendel sogar verstehen. Ganz offensichtlich hielten Kai und die anderen Grendels Sohn als Geisel zurück; Kim hätte sich an seiner Stelle nicht anders entschieden.

Seine Sachen waren rasch zusammengesucht. Mit Ausnahme des Zauberbogens und seiner Satteltaschen hatte er ja praktisch nichts mitgebracht. Er trug alles in den Stall, zäumte sein Pferd auf und hatte eigentlich vor, dann wieder ins Bett zu gehen und den Schlafenden zu spielen, bis Grendel zurückkam und anschließend wieder ganz normal zur Arbeit ging. Die fünf oder sechs Stunden, die dann bis zu seiner abermaligen Rückkehr vergehen mochten, mussten als Vorsprung eben reichen.

Doch es kam anders.

Er befand sich gerade wieder auf dem Rückweg zum Haus, als Grendel plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihm auftauchte. Ein einziger Blick in sein Gesicht machte Kim klar, dass es vollkommen sinnlos war, ihm irgendetwas vormachen zu wollen.

Trotzdem versuchte er es. »Oh, hallo!«, sagte er, den Ahnungslosen spielend; allerdings konnte er es nicht sehr gut. »Ich konnte nicht schlafen und da dachte ich mir -«

»Dass du klammheimlich deine Sachen packst und verschwindest«, unterbrach ihn Grendel mit steinernem Gesicht. »Warum?«

»Ich wollte nicht verschwinden«, behauptete Kim. »Ich wollte nur -«

»Lüg mich nicht an«, fiel ihm Grendel ins Wort. »Ich habe dich in mein Haus aufgenommen. Ich habe mein Essen mit dir geteilt, dir Kleider gegeben und dich vor deinen Feinden versteckt und zum Dank willst du dich bei Nacht und Nebel davonschleichen.«

Kim sah ein, dass es keinen Sinn mehr hatte zu lügen. Und er hatte auch gar keine Lust dazu. »Ich war am Fluss«, sagte er. Grendel antwortete nicht sofort. Er sah Kim nur an und eine Mischung aus Trauer und Resignation machte sich auf seinem Gesicht breit.

»Warum?«, fragte Kim schließlich.

»Wenn du am Fluss warst, dann hast du das ja auch gehört«, antwortete Grendel. »Es geht um meinen Sohn. Ich verrate dich nicht gerne, aber ich habe keine Wahl. Ich bekomme ihn zurück, wenn ich dich ausliefere.«

»Haben sie ihn entführt?«, fragte Kim.

»Entführt?« Grendel schüttelte den Kopf. »O nein. Er ist mit ihnen gegangen, nachdem sie Caivallon niedergebrannt hatten. Er ist jetzt bei dem großen Heer.«

»Und du glaubst wirklich, er wird freiwillig zu dir zurückkommen?«, fragte Kim.

»Er wird es tun, wenn Kai es ihm befiehlt«, antwortete Grendel und der Ton, in dem er es tat, machte Kim klar, wie sinnlos es war, ihm erklären zu wollen, dass Kai wahrscheinlich nicht Wort halten würde; und wenn, dass Grendels Sohn wahrscheinlich nicht zurückkommen wollte. Grendel glaubte daran, weil er es glauben wollte.

»Wer ist dieser Kai eigentlich?«, fragte er.

»Er war der beste der jungen Steppenreiter«, antwortete Grendel. »Und ein guter Freund meines Sohnes - bevor sich alles verändert hat. Heute ist er einer der Heerführer. Und die rechte Hand des Magiers der Zwei Berge.«

»Der Magier der Zwei Berge?«

Grendel hob die Schultern. »Man sagt, dass er die Armee aufgestellt und den Krieg vom Zaun gebrochen hat. Niemand weiß, wer es wirklich ist. Und ich schon gar nicht.« Er seufzte. »Du willst also gehen. Aber das wäre vollkommen sinnlos. Sie durchstreifen die ganze Gegend, weißt du? Du kämst keine Stunde weit.«

»Ich werde es trotzdem versuchen«, sagte Kim.

»Nein«, antwortete Grendel. »Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen.«

Seine Bewegung kam so schnell, dass Kim nicht einmal eine Chance hatte ihr auszuweichen. Grendels Rechte schoss vor und schloss sich mit solcher Kraft um sein Handgelenk, dass er vor Schmerz aufschrie.

»Es tut mir Leid«, sagte Grendel. »Aber ich habe keine Wahl.«

Kim wehrte sich mit aller Gewalt, aber Grendels Griff war wie ein Schraubstock. Der alte Mann war stärker, als er aussah. Die harte Arbeit, die er ein Leben lang ausgeführt hatte, war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen.

Kim zerrte und riss mit aller Kraft, aber es war aussichtslos. Schließlich ließ er alle Rücksicht fahren und versuchte nach Grendel zu schlagen und zu treten, aber auch das erwies sich als zwecklos. Grendel wich seinen Hieben geschickt aus, ergriff ihn schließlich ohne sichtbare Mühe und hob ihn einfach hoch. Ohne Kims verzweifelte Gegenwehr oder sein lautes Schreien auch nur zur Kenntnis zu nehmen, trug er ihn zum Pferdestall zurück, warf ihn in hohem Bogen auf einen Heuhaufen und knallte die Tür zu. Der Riegel wurde polternd vorgelegt, noch bevor Kim sich aufrappeln konnte.

Wütend rannte er zur Tür zurück und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Die Tür bebte, gab aber keinen Millimeter nach.

»Gib dir keine Mühe«, drang Grendels Stimme von draußen herein. »Wir haben früher wilde Pferde dort drinnen gehalten. Du kommst nicht heraus.«

Kim musste zugeben, dass Grendel vermutlich Recht hatte. Die Tür war massiv genug, um selbst dem Ansturm eines wütenden Stieres standzuhalten, und die Fenster waren so schmal, dass selbst der Pack Mühe gehabt hätte, sich hindurchzuquetschen. Der einzige Schwachpunkt schien die Decke zu sein, die nur aus einfachen Holzschindeln bestand. Aber sie befand sich gute drei Meter über ihm und es gab keine Möglichkeit hinaufzuklettern. In seiner Verzweiflung versuchte Kim sogar sich einen Weg unter der Tür hindurchzugraben, aber der Boden war hart wie Stein. Er saß in der Falle.

Es verging eine gute halbe Stunde, bis er draußen wieder Geräusche hörte. Kim rief Grendels Namen, bekam aber keine Antwort. Die Geräusche hielten jedoch an und nach ein paar weiteren Sekunden identifizierte er sogar die Richtung, aus der sie kamen: von oben. Jemand war auf dem Dach.

Kim hatte diesen Gedanken kaum gedacht, da musste er sich auch schon mit einem hastigen Satz in Sicherheit bringen, weil es von oben zerbrochene Holzschindeln regnete. Binnen weniger Augenblicke entstand auf diese Weise ein gut meterbreites Loch im Dach, durch das ein pelziges Gesicht auf ihn herabblickte.

»Pack!«, rief er erleichtert. »Dich schickt der Himmel! Schnell! Besorg ein Seil!«

Der Pack schnatterte eine unverständliche Antwort und nutzte die Gelegenheit um Kim eine Dachschindel an den Kopf zu werfen, verschwand dann aber prompt und gleich darauf wurde ein dünnes, weißes Seil durch das Loch herabgelassen.