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Eigentlich war es gar kein richtiges Seil, sondern nur eine Art Faden, dünn wie ein Haar und seidig glänzend. Noch während Kim es verdattert anstarrte, erschien ein weißes Gesicht mit zwei nadelspitzen Fangzähnen und einem halben Dutzend glänzender Knopfaugen in der Öffnung im Dach und eine dünne Stimme sagte ungeduldig: »Worauf wartest du? Auf einen roten Teppich?«

»Du?«, sagte Kim verwirrt. Dann blickte er wieder zweifelnd auf den Spinnfaden.

»Jetzt stell dich nicht so an«, keifte die Spinne. »Es hält schon. Vor allem ein Fliegengewicht wie dich!«

Kim war da nicht so sicher, aber welche Wahl hatte er schon? Er griff nach dem Faden und zog ein paar Mal daran und zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es sein Gewicht tatsächlich zu halten schien. Also kletterte er daran empor - was sich allerdings als gar nicht so einfach erwies. Der Seidenfaden war zwar so stabil wie ein Drahtseil, aber einfach zu dünn, um vernünftig daran emporklettern zu können. Er zerschnitt sich übel die Hände und war vollkommen außer Atem, als er endlich oben auf dem Dach war.

Die Spinne betrachtete ihn spöttisch. »Geschickt«, sagte sie hämisch. »Ich frage mich, wie es eure Rasse jemals von den Bäumen herunter geschafft hat.«

»Das kann ich dir sagen«, knurrte Kim. Er richtete sich ärgerlich auf, verlor auf dem abschüssigen Dach prompt den Halt und schlitterte hilflos mit den Armen rudernd über den Rand. Mit einem Schrei stürzte er in die Tiefe, schlug schwer auf dem Boden auf und verletzte sich nur wie durch ein Wunder nicht schwer.

Als er sich benommen wieder aufrichtete, lugte die Spinne über den Rand des Daches zu ihm herab.

»Aha«, sagte sie. »So also.«

Kim schenkte ihr einen bösen Blick, beließ es aber dabei und rappelte sich hoch um zur Tür zu humpeln. Grendel hatte gottlob nur einen Riegel vorgelegt, den er mit einiger Mühe zur Seite wuchten konnte.

Als er die Tür öffnete, kam Twix auf wirbelnden goldenen Flügeln herangesaust und piepste in höchster Panik: »Schnell! Sie sind gleich da!«

»Fleisch!«, krächzte die Spinne vom Dach aus. Die Elfe erschrak so sehr, dass sie für einen Moment nicht Acht gab und in vollem Tempo gegen die Wand flog.

Kim fing sie auf, steckte sie in die Hemdtasche und rannte in den Stall. Mit einem Satz war er im Sattel, beugte sich tief über den Hals des Pferdes und sprengte aus der Tür.

So schnell er auch war - möglicherweise war er doch nicht schnell genug. Im selben Moment, in dem er den Stall verließ, tauchten Kai und zwei andere junge Steppenreiter am Ende der kurzen Straße auf.

Kai reagierte sofort, während die beiden Jungen Kim nur verblüfft anstarrten. Der junge Steppenreiter trieb seinem Pferd rücksichtslos die Absätze in die Flanken, worauf das Tier erschrocken aufschrie und einen regelrechten Satz in Kims Richtung machte.

Die beiden Tiere prallten mit solcher Wucht zusammen, dass Kim beinahe und Kai tatsächlich den Halt verlor. Er kippte mit einem überraschten Schrei aus dem Sattel, schlug aber noch im Fallen einen Salto und landete mit artistischer Geschicklichkeit auf den Füßen, während Kim noch damit beschäftigt war, um sein Gleichgewicht zu kämpfen und sein bockendes Pferd wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Kai zog sein Schwert, schwang die Waffe mit beiden Händen und hieb nach Kims linkem Bein. Im allerletzten Moment riss Kim den Fuß aus dem Steigbügel und entging dem gemeinen Hieb, aber die Schwertspitze streifte die Flanke des Pferdes und fügte ihm eine tiefe, heftig blutende Wunde zu.

Das Pferd bäumte sich mit einem Schmerzensschrei auf und schlug mit den Vorderläufen aus. Kai wurde getroffen, stolperte ein paar Schritte nach hinten und ließ sein Schwert fallen und Kim stürzte endgültig aus dem Sattel.

Sofort war er wieder auf den Füßen. Aber er sah, dass nun auch die beiden anderen Jungen ihre Überraschung überwunden hatten und herangesprengt kamen. Er hatte nicht die geringste Chance, rechtzeitig wieder auf sein Pferd zu kommen. Die beiden Jungen mussten in zwei oder drei Sekunden hier sein.

Sie hätten ihn auch garantiert erwischt, hätten sie in ihrer Hast nicht den dünnen, glitzernden Faden übersehen, der sich plötzlich quer über die Straße spannte.

Kim zog erschrocken den Kopf zwischen die Schultern, als die beiden plötzlich reiterlosen Pferde rechts und links an ihm vorbeipreschten. Die beiden Jungen lagen drei oder vier Meter entfernt auf dem Boden und versuchten vergeblich zu verstehen, was eigentlich passiert war.

Trotzdem hatte er keine Zeit zu verlieren, denn auch Kai richtete sich bereits wieder auf und tastete benommen nach der gewaltigen Beule, die mitten auf seiner Stirn wuchs.

Kim bückte sich hastig nach dem Schwert, das Kai fallen gelassen hatte, schob es unter seinen Gürtel und humpelte zu seinem Pferd. Das Tier tänzelte unruhig auf der Stelle und stieß schnaubende, schmerzerfüllte Laute aus. Die Wunde an seiner Seite war wirklich tief und sie blutete heftig.

»Gib auf, du Dummkopf!«, stöhnte Kai hinter ihm. »Du kannst nicht entkommen.«

Kim drehte sich zu ihm herum. Kai hatte sich auf Hände und Knie erhoben, aber offensichtlich fehlte ihm die Kraft, ganz aufzustehen. Trotzdem grinste er, als er Kim ansah.

»Du bist wirklich gut, das muss man dir lassen«, sagte er. »Du machst deinem Namen alle Ehre.«

Für einen kurzen Moment empfand Kim beinahe Hass auf den blonden Jungen und er hätte nichts lieber getan als seinen Bogen vom Sattel zu lösen und Kai einen Pfeil mitten in sein hämisches Grinsen zu schießen. Aber in derselben Sekunde schämte er sich dieses Gedankens auch schon wieder.

»Du wirst dich noch wundern, wie sehr!«, sagte er grimmig, griff nach den Zügeln und schwang sich in den Sattel. Das Pferd keuchte vor Schmerz, hielt aber trotzdem gehorsam still, bis er aufgestiegen war.

»Das hat doch keinen Sinn!«, rief Kai. »Du hast nichts zu befürchten! Unser Herr will mit dir sprechen, das ist alles!«

Kim ignorierte ihn. Vorsichtig drehte er das Pferd herum und ließ es lostraben. Das Tier zitterte heftig, setzte sich aber trotzdem gehorsam in Bewegung. Doch er spürte, wie schwer ihm jeder Schritt fiel. Seine Kraft würde nicht mehr lange vorhalten. Langsam ritt er aus dem winzigen Dorf und wandte sich nach Westen. Die Ruinen Caivallons ragten riesenhaft und irgendwie bedrohlich vor ihm empor, aber vermutlich war die niedergebrannte Stadt die einzige Chance, die er hatte. Mit diesem verwundeten Tier würde er nicht weit kommen. Und wenn Kai und die anderen erst einmal anfingen nach ihm zu suchen, dann musste sein Vorsprung rasch dahinschmelzen. Er brauchte ein Versteck, in dem er sich um die Verletzung des Pferdes kümmern - und vor allem einen Plan entwickeln konnte.

Kim war erst wenige Minuten unterwegs, als er eine Staubwolke vor sich sah. An ihrem Beginn, noch winzig klein, aber deutlich zu erkennen, schimmerte ein halbes Dutzend weißer Punkte.

Es gehörte nicht besonders viel Fantasie dazu, sich auszurechnen, was sie darstellten.

Kim hielt an, griff in die Hemdtasche und zog die Elfe hervor. Sie wirkte noch immer benommen. Ihre Flügel waren zerknittert.

»O Mann«, murmelte sie. »Das war vielleicht ein -«

»Dafür ist jetzt keine Zeit, Twix«, sagte Kim rasch. »Kannst du fliegen?«

»Natürlich kann ich fliegen«, piepste Twix. »Ich bin eine Elfe!«

»Ich meine, ob du jetzt fliegen kannst«, sagte Kim.

»Jetzt?« Twix schlug prüfend mit den Flügeln, erhob sich ein paar Zentimeter von seiner Hand und plumpste zurück.

»Es wird schon gehen«, behauptete sie. »Wohin soll ich denn fliegen?«

»Nicht weit.« Kim deutete steil nach oben. »Sag mir nur, aus welcher Richtung sie kommen.«

»Wird gemacht, Chef«, antwortete die Elfe. Ein wenig wackelig, aber schneller werdend, schraubte sie sich in engen Spiralen in die Höhe und verschwand schon nach zwei Sekunden aus Kims Gesichtsfeld.