Sie hatten die Fähre beinahe erreicht, als am Ufer ein gut fußballgroßer weißer Ball auftauchte, der auf mehr als einem halben Dutzend wirbelnder Beine durch das Gras flitzte - und ohne innezuhalten einfach über das Wasser lief!
Die Spinne verlor nicht einmal an Geschwindigkeit, sondern rannte einfach über die Wasseroberfläche, sprang auf den Rücken eines der Schwimmer und schoss einen glitzernden Faden nach den Beinen des anderen ab. Zielsicher wie ein Lasso wickelte er sich um das Fußgelenk des Mannes und die Spinne kappte den Faden, wirbelte blitzschnell herum und knotete das andere Ende um das Handgelenk des anderen Mannes.
Der Schwimmer begann vor Entsetzen zu kreischen, als er sah, was auf seinem Rücken saß, vergaß prompt zu schwimmen und ging unter und die Spinne lief weiter und krabbelte dicht neben Kim auf das Floß. Twix kreischte erschrocken und verschwand nahezu mit Lichtgeschwindigkeit in Kims Brusttasche und der Pack klappte aufmerksam die Ohren hoch und zog sich ans andere Ende des Floßes zurück.
Kim machte eine beruhigende Geste, konzentrierte sich aber ganz auf die beiden Schwimmer. Die Männer hatten ihren Rhythmus wieder gefunden, aber sie hatten jetzt ein anderes Problem als ihn zu verfolgen. Aneinander gebunden, wie sie waren, würden sie von Glück sagen können, wenn sie das Ufer wieder erreichten.
Kim atmete erleichtert auf. Der Kampf am Ufer neigte sich seinem Ende zu, aber er konnte noch immer nicht sagen, welche Seite gewonnen hatte. Vielleicht keine. Und selbst wenn - die Schlacht war vollkommen sinnlos geworden. Der Preis, um den es ging - er -, war nicht mehr da.
»Das war verdammt knapp«, murmelte er.
»Ja, gerne geschehen«, sagte die Spinne. »Freunden tut man doch gerne einen Gefallen.«
»Freunden?!«, piepste eine Stimme aus seiner Tasche.
»So ein Stück harte Arbeit macht hungrig«, fuhr die Spinne fort. Sie kam unauffällig näher und linste zu Kims Brusttasche hoch. »Meinst du nicht, dass du mir einen kleinen Happen schuldig bist?«
»Ich habe nichts«, sagte Kim. Er drehte sich einmal im Kreis und versuchte die Richtung abzuschätzen, in der sich das Floß bewegte, aber es gelang ihm nicht.
»Du lügst«, sagte die Spinne.
»Du hörst doch, er hat nichts!«, piepste Twix aus seiner Tasche heraus.
»Tut mir Leid«, antwortete die Spinne. »Aber ich darf nicht mit dir reden.« Sie berührte Kim mit drei Beinen am Fuß. »Fleisch?«
»Nein«, sagte Kim.
»Fang dir doch einen Fisch«, fügte Twix hinzu.
»Ach, und womit? Habe ich etwa eine Angel in der Tasche?«
»Web dir doch ein Netz«, riet Twix. Sie streckte vorsichtig den Kopf ins Freie, sah auf die Spinne hinab - und blies eine Wolke von goldfarbenem Staub auf sie. Die Spinne kreischte, war mit einem einzigen Hüpfer am anderen Ende der Fähre und handelte sich prompt einen Fußtritt des Pack ein.
»Schluss jetzt!«, sagte Kim streng. »Das ist ja schlimmer als im Kindergarten. Ihr benehmt euch oder ihr könnt hinterher schwimmen.«
»Ich kann nicht schwimmen«, sagte die Spinne übellaunig. »Nicht mit leerem Magen.«
Kim zog es vor, nichts mehr zu sagen.
Das Floß trieb im Laufe der folgenden Stunden bis in die Flussmitte hinaus und geriet dabei immer mehr in den Sog der Strömung. Es wurde immer schneller, bis es regelrecht dahinschoss, aber es machte keine Anstalten sich etwa dem jenseitigen Ufer zu nähern.
Kim begann sich zu fragen, wie er seine Fahrt beenden sollte. Es gab an Bord der Fähre weder ein Ruder noch irgendeine andere Möglichkeit, den Kurs des Floßes zu beeinflussen.
Aber diese Frage hatte Zeit. Wenn er sich richtig erinnerte, dann waren es fast drei Tage bis zu Themistokles' gläserner Stadt. Schlimmstenfalls konnte er Twix vorausschicken, damit sie den Zauberer alarmierte und er Hilfe schickte.
Heute hatte er eine andere Aufgabe für die Elfe.
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Spinne in sicherer Entfernung dahockte, nahm er die Elfe aus der Brusttasche und ging mit ihr zu seinem Pferd. Die Wunde in der Flanke des Tieres hatte aufgehört zu bluten, aber sie sah sehr schlimm aus.
»Kannst du ihm helfen?«, fragte er.
Twix legte die winzige Stirn in noch winzigere Falten und betrachtete die hässliche Schnittwunde eine ganze Weile. Dann erhob sie sich auf wirbelnden Flügeln in die Luft und ließ goldenen Elfenstaub auf das Tier herabrieseln.
Die Wirkung war nicht so dramatisch, wie Kim erwartet hatte. Das Tier tänzelte weiter nervös auf der Stelle und die Wunde schloss sich auch nicht. Nach einer guten halben Stunde ließ sich Twix wieder auf seine Schultern sinken. »Mehr kann ich nicht tun«, sagte sie erschöpft. »Jedenfalls heute nicht. Ich habe all meinen Zauberstaub aufgebraucht. Vor morgen früh kommen meine Kräfte nicht zurück.«
Die Spinne öffnete zwei oder drei Augen und spannte sich ein bisschen. Kim warf ihr einen drohenden Blick zu und wandte sich dann wieder an die Elfe. »Aber du hast ihm helfen können?«
»Das Pferd wird wieder gesund«, sagte Twix müde. »Aber es wird eine Weile dauern. Wäre ich noch im Vollbesitz meiner Kräfte...«
»Und ich erst«, murmelte die Spinne.
Kim ignorierte sie. »Wieso hast du sie eigentlich nicht mehr?«, fragte er.
»Das weiß niemand«, antwortete Twix. »Die Magie erlischt eben. Keiner weiß, warum.«
»Wann hat es angefangen?«, erkundigte sich Kim.
Twix sah ihn fragend an. »Wann?«
Kim hatte ganz vergessen, dass Elfen so gut wie kein Zeitgefühl hatten. »Das große Sterben«, sagte er. »Alle deine Schwestern sind gestorben, nicht wahr?«
»Die meisten«, sagte Twix. »Ich glaube, ich wäre auch gestorben, wenn du nicht gekommen wärst.« Sie warf der Spinne einen schrägen Blick zu. »Seit du da bist, fühle ich mich besser.«
»Und warum?«
Kim rechnete nicht wirklich mit einer Antwort, aber er bekam sie. »Vielleicht, weil du an mich glaubst«, sagte Twix.
»Wie?«
»Ja weißt du denn nicht, wie Magie funktioniert?«, fragte die Elfe blinzelnd.
»Nein«, sagte Kim. Woher auch? »In meiner Welt gibt es keine Magie.«
»Weil ihr nicht an sie glaubt«, sagte Twix. »So einfach ist das. Ihr glaubt an eure Technik und an eure Wissenschaft und deshalb funktionieren sie auch. Würdet ihr an Zauberei glauben, dann würde sie auch funktionieren.«
»Kaum«, sagte Kim lächelnd. »Bei uns funktionieren die Dinge etwas anders.«
»Ihr steigt ja auch anders von den Dächern«, meinte die Spinne. Kim ignorierte ihre Bemerkung.
»Ich muss dringend mit Themistokles reden«, murmelte er.
»Themistokles, der Zauberer?« Die Spinne kicherte. »Bist du sicher, dass er noch zaubern kann?«
»Klar«, antwortete Kim. »Schließlich glaube ich an ihn.«
Die Spinne machte ein abfälliges Geräusch. »Du spinnst doch«, sagte sie.
Den ganzen Tag über schoss das Floß in der stärker werdenden Strömung dahin. Einige Male glitt eine Stadt am Flussufer vorbei und mindestens eine davon stand in hellen Flammen.
Sie kamen dem Ufer niemals nahe genug um Menschen zu sehen, sodass Kim nicht sagen konnte, ob die Städte und Gehöfte, an denen sie vorüberkamen, von ihren Bewohnern verlassen worden waren oder nicht. Kim war aber davon überzeugt.
Und noch etwas fiel ihm auf. Es war vollkommen windstill. Die sanfte Brise, die ihm ins Gesicht blies, war nur der Fahrtwind. Nicht nur die Magie Märchenmonds hatte sich geändert. Diese ganze Welt schien anders geworden zu sein.
Als die Sonne sank, rollte sich Kim in der Mitte des Floßes zusammen und schlief auf der Stelle ein.
Kurz nach Einbruch der Dämmerung wachte er auf, weil ihn etwas sanft wie eine Feder an der Schulter berührte. Kim stellte sich weiter schlafend, öffnete aber die Augen einen halben Millimeter.