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Der Anblick, der sich ihm bot, war verblüffend.

Die Spinne balancierte auf nur vier Beinen neben ihm. Zwei weitere Beine benutzte sie dazu, Kims Brusttasche aufzuhalten, und mit den restlichen beiden versuchte sie hineinzugreifen.

»Guten Morgen«, sagte Kim.

Die Spinne machte einen erschrockenen Satz, stolperte über ihre eigenen Beine und fiel nicht zum ersten Mal, seit Kim sie kennen gelernt hatte, aufs Gesicht. Vielleicht war es ja deshalb so flach.

In seiner Tasche raschelte es, dann tauchte ein verschlafenes Gesicht von der Größe eines Fingernagels darüber auf. Twix gähnte, rieb sich die Augen und blinzelte in das graue Licht des erwachenden Tages.

»Wieso bist du denn schon wach?«, fragte sie gähnend.

»Ich weiß auch nicht«, antwortete Kim, während er der Spinne einen schrägen Blick zuwarf. »Ich glaube, wir haben einen Frühaufsteher unter uns.«

»Pfff«, machte die Spinne und trollte sich.

Twix krabbelte umständlich aus seiner Tasche, richtete sich auf und begann sich ausgiebig zu recken. »Wenn ich schon mal da bin, dann kann ich genauso gut einen kleinen Rundflug machen.«

»Tu das«, maulte die Spinne. »Aber verflieg dich nicht. Wir brauchen dich noch.«

Auch Kim stand auf. Er war alles andere als ausgeschlafen, aber er war nun einmal wach und konnte ruhig aufstehen. Auch wenn er selbst nicht sagen konnte, wozu eigentlich. Vor ihm lagen noch gute anderthalb Tage Floßfahrt, in denen er zu nichts anderem als eben Nichtstun verdammt war. Er trat an die einfache Reling des Floßes und blickte gelangweilt in die Strömung hinab. Sie schien seit gestern noch zugenommen zu haben und für einen Moment... erinnerte ihn der Anblick an etwas.

Der Gedanke entschlüpfte ihm, bevor er ihn richtig fassen konnte. Aber er hinterließ ein leises, ungutes Gefühl. Es war einfach zu lange her, dass er das letzte Mal auf diesem Fluss gefahren war.

Der Pack lag auf der anderen Seite des Floßes und schnarchte, was das Zeug hielt, und die Spinne hockte reglos da und suchte mit gierigen Blicken den Himmel ab. Schon jetzt begann sich Langeweile breit zu machen. Und der weitaus längere Teil der Reise lag noch vor ihnen!

Er sah wieder auf den Fluss hinab. Er war jetzt sicher, dass die Strömung zugenommen hatte. Dann fiel ihm noch etwas auf: In der Luft lag ein ganz schwaches, aber hörbares Geräusch. Ein sonderbares, dunkles Vibrieren und Grollen; wie die Atemzüge eines gigantischen Drachen, der dicht hinter dem Horizont schlief.

Kim verscheuchte den Gedanken und suchte den Himmel ab. Es verging noch eine gute Viertelstunde, ehe die Elfe zurückkam, sichtlich wach und im Vollbesitz ihrer Kräfte. Sie raste im Tiefflug heran, sauste dicht über den Kopf der Spinne hinweg und bestäubte sie dabei ganz aus Versehen mit ihrem Gold, bevor sie sich auf Kims Schulter niederließ.

»Das hat gut getan«, sagte sie. »Ich bin schon lange nicht mehr so toll geflogen! Danke.«

»Aber ich habe doch gar nichts getan«, sagte Kim.

»Doch«, behauptete die Elfe. »Du bist hier.«

»Fragt sich nur, wie lange noch«, sagte die Spinne giftig.

Kim verdrehte seufzend die Augen. Das konnte ja noch heiter werden.

»Hast du irgendetwas Interessantes entdeckt?«, wandte er sich an die Elfe.

»Nichts«, antwortete Twix. »Eine Stadt, ein Stück flussabwärts. Aber sie ist verlassen. Wie es aussieht, schon lange.«

Kim sah hoch. Das Grollen schien stärker geworden zu sein. Nicht unbedingt lauter, aber ... machtvoller.

»Keine Möglichkeit, ans Ufer zu kommen?«, fragte er ohne besondere Hoffnung.

Die Elfe schüttelte so heftig den Kopf, dass der goldene Staub nur so flog. »Nein. Die pure Langeweile, kann ich dir sagen. Es ist noch ein weiter Weg bis Gorywynn.«

»Jaja«, sagte die Spinne.

Kim wollte auch diese Bemerkung ignorieren, entschied sich aber dann doch anders. »Jetzt hört mir mal zu«, sagte er ernst. »So geht das nicht weiter.«

»Was?«, fragte die Spinne.

»Das mit euch beiden.« Kim sah zuerst Twix, dann die Spinne mahnend an. »Du solltest endlich begreifen, dass du Twix nicht essen kannst. Und du -« Er wandte sich an die Elfe. »- hörst auf, sie zu ärgern.«

»Ich tue doch gar nichts!«, protestierte Twix. »Sie ärgert uns die ganze Zeit!«

»Wir müssen die nächsten Tage miteinander auskommen, ob uns das nun passt oder nicht«, fuhr Kim unbeeindruckt fort. »Also wäre es hilfreich, wenn ihr euch benehmen würdet.«

»Tue ich doch«, behauptete die Spinne. »Hätte ein gewisser Jemand nicht mein Netz demoliert, dann wäre ich gar nicht hier.«

»Pah«, machte Twix. »Fang gefälligst Fliegen, wie es jede anständige Spinne tut.«

»Mit dir rede ich nicht«, konterte die Spinne. »Außerdem bist du für mich nicht mehr als eine Fliege. Klein, mit Flügeln und ziemlich beschränkt.«

»Immerhin schlau genug um dir -«

»Schluss!«, brüllte Kim.

Zu seiner eigenen Überraschung verstummten die ungleichen Streithähne augenblicklich. Für zwei oder drei Sekunden wurde es fast unnatürlich still. Alles, was zu hören war, waren das Rauschen des Wassers und dieses unheimliche, grollende Geräusch, das abermals an Intensität zugenommen hatte.

»Was um alles in der Welt ist das nur?«, murmelte Kim.

»Was meinst du?«, fragte Twix. »Das Geräusch der Wasserfälle?«

Kim starrte sie an. »Was?«

»-serfälle«, sagte Twix. »Nicht nur was.«

»Wasserfälle?«, krächzte Kim. »Hier? Auf diesem Fluss?« Er sprang mit einem Ruck auf und starrte nach Westen. »Aber es gibt hier keine Wasserfälle! Ich bin schon einmal auf diesem Fluss gefahren! Ich weiß das! Hier hat es niemals einen Wasserfall gegeben!«

»Jetzt schon«, sagte Twix gleichmütig. »Das hier ist der alte Teil des Flusses, weißt du? Weiter vorne hat er sich ein neues Bett gesucht. Und der liegt ein Stück tiefer.«

»Ein Stück?«, fragte Kim. »Was heißt: ein Stück?«

Twix betrachtete ihn einen Moment lang nachdenklich. »Vielleicht fünfzig.«

»Fünfzig was?«, fragte Kim nervös. »Zentimeter?«

»Fünfzigmal so hoch wie du«, sagte Twix. »Kann aber auch ein bisschen mehr sein.«

»Und wie weit ... ist es noch?«, fragte Kim mit klopfendem Herzen.

Wieder zuckte die Elfe mit den Schultern. »Nicht weit«, sagte sie. »Zehn Minuten. Vielleicht auch nur fünf.«

»Und das sagst du mir erst jetzt?!«

»Du hast nicht danach gefragt«, antwortete Twix beleidigt.

»Ich habe gerade eben gefragt -«

»Ob ich etwas Interessantes entdeckt habe«, fiel ihm die Elfe ins Wort. »Du hast nicht nach einem Wasserfall gefragt.«

»Gib es auf«, sagte die Spinne. »Elfen sind blöd.«

»Aber nicht blöd genug um sich von Spinnen fangen zu lassen«, konterte Twix.

»Hört auf!«, sagte Kim. »Seid ihr verrückt? Begreift ihr eigentlich nicht, dass wir in Lebensgefahr sind?«

»Wir?«, fragte die Spinne.

»Wieso wir?«, wollte auch Twix wissen.

Kim war beinahe in Panik. Das Floß wurde nun spürbar schneller und das Grollen des Wasserfalls war längst zu einem Dröhnen und Donnern geworden. Er musste irgendetwas tun! Sie mussten irgendwie von diesem Fluss herunter!

Er sah nach Westen. Der Fluss hatte sich nicht verändert, aber dicht vor dem Horizont glaubte er nun eine Nebelbank zu erkennen. Aber es war kein Nebel. Es war eine gigantische Gischtwolke, die vom unteren Ende des Wasserfalls emporstieg.

»Spinne!«, sagte er. »Kannst du das Ufer erreichen?«

»Klar«, sagte die Spinne.

»Dann lauf so schnell wie möglich hin. Wir brauchen einen deiner Fäden!«

»Wozu?«

»Um das Floß daran festzubinden!«, antwortete Kim. »Du und Twix, ihr seid ja vielleicht nicht in Gefahr, aber der Pack, das Pferd und ich werden ertrinken oder uns alle Knochen brechen! Wir brauchen deinen Faden!«