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»Auf die Entfernung?«, fragte die Spinne. »Und bei dieser Strömung? Keine Chance. Wenn ich nicht halb verhungert und vom Fleisch gefallen wäre, könnte ich es ja vielleicht versuchen, aber so ...«

»Bitte!«, sagte Kim. »Es ist unsere einzige Chance!«

Er sah wieder nach vorne. Die Wolke aus brodelnder Gischt war näher gekommen. Sie hatten allerhöchstem noch fünf Minuten.

»Ich kann es ja mal versuchen«, sagte die Spinne. »Aber garantieren kann ich nichts.«

Kim nickte nervös. Mittlerweile war auch der Pack aufgestanden und blickte aus weit aufgerissenen Augen nach Westen und selbst das Pferd begann unruhig auf der Stelle zu tänzeln. Die Spinne produzierte einen Faden und verknotete ihn sorgfältig am Geländer. Dann trippelte sie zum Rand des Floßes, sah einen Moment lang prüfend ins Wasser und meinte: »Die Strömung ist wirklich stark.«

»Du bist ja angeseilt«, flötete Twix. »Keine Angst. Zur Not retten wir dich.«

Die Spinne warf ihr einen bösen Blick zu, setzte vorsichtig vier oder fünf Beine aufs Wasser - und wurde von der Strömung ergriffen und wie der Blitz davongetragen.

»Ui«, kreischte sie überrascht. »Das ist - au verdammt!«

Die beiden letzten Worte hatte sie geschrien, aber Kim verstand sie über dem Grollen des Wasserfalls kaum noch. Außerdem entfernte sie sich immer schneller vom Floß, wobei sie sich ständig wie ein Kreisel um ihre eigene Achse drehte und sich dabei in ihren eigenen Faden verstrickte, den sie ja noch immer hinter sich herzog. Innerhalb weniger Sekunden nur hatte sie sich gute zwanzig oder dreißig Meter vom Floß entfernt.

Kim griff hastig nach dem Faden und hielt ihn fest und selbst der Pack sprang auf und packte kräftig mit zu. Die Spinne kreischte und tobte vor ihnen, stolperte ein paar Mal über ihren eigenen Faden und versank nur wie durch ein Wunder nicht in den Fluten.

»Festhalten!«, schrie Kim. »Wir ziehen dich rein!«

Er bezweifelte, dass die Spinne seine Worte überhaupt hörte. Sie war mittlerweile gute vierzig Meter vom Floß entfernt und Kim registrierte voller Entsetzen, dass er sich verschätzt hatte. Der Wasserfall war viel näher, als er geglaubt hatte. Die Gischtwolke ragte wie eine grauweiße Mauer vor ihnen empor, die unmittelbar bis zum Himmel zu reichen schien, und der Lärm war zu einem Dröhnen und Poltern angewachsen, als fiele ein ganzes Gebirge zusammen.

Kim und der Pack zogen mit aller Kraft. Der Seidenfaden war so straff gespannt wie ein Stahlseil und er surrte wie eine Gitarrensaite in ihren Händen. Trotzdem gelang es ihnen nicht, die Spinne wieder auf das Floß zu ziehen. Die Kraft der Strömung war unvorstellbar. Das Wasser schoss mittlerweile so schnell dahin, dass seine Oberfläche wie Glas aussah.

Und dann war die Spinne plötzlich verschwunden.

Der Faden in Kims Händen war nach wie vor straff gespannt, aber die Spinne war einfach nicht mehr da. Und Kim begriff beinahe zu spät, was diese Beobachtung wirklich bedeutete ... »Festhalten!«, schrie er.

Eine Sekunde später war nicht nur die Spinne, sondern der ganze Fluss verschwunden, und vor ihnen gähnte ein gewaltiger Abgrund, über dessen Rand das Wasser mit solcher Gewalt schoss, dass es sich in Staub zu verwandeln schien. Kim klammerte sich mit verzweifelter Kraft am Geländer fest und wartete darauf, den Boden unter den Füßen zu verlieren und den tödlichen Sturz in die Tiefe zu beginnen.

Stattdessen wurde das Floß von einem so heftigen Schlag getroffen, dass Kims Stirn gegen das Geländer krachte und er für einen Moment nur Sterne sah. Alles schien gleichzeitig zu geschehen: Das Floß bäumte sich auf. Holz splitterte. Der Pack kreischte und wurde gegen das Pferd geschleudert, das ebenfalls erschrocken aufschrie und auf die Hinterläufe stieg. Twix war einfach verschwunden und Kim taumelte benommen zurück und fiel unsanft zu Boden.

Als er wieder einigermaßen klar denken konnte, bot sich ihm ein geradezu bizarrer Anblick: Das Floß war nicht in die Tiefe gestürzt, sondern hatte sich in einer Ansammlung spitzer Felsen verkeilt, die nur Zentimeter unter der Wasseroberfläche lauerten. Vier oder fünf Balken waren geborsten und ein Teil des Geländers war ebenfalls weggebrochen. Das Floß ragte schräg aus dem Wasser, das sich schäumend an seinem Heck brach, und die ganze Fähre zitterte und bebte ununterbrochen, als würde sie von Hammerschlägen getroffen.

Kim richtete sich behutsam auf, kroch auf Händen und Knien nach vorne und spähte in die Tiefe.

Er schauderte.

Elfen verstanden wirklich nichts von Zahlen. Der Wasserfall war nicht fünfzig, sondern mindestens fünfhundert Meter tief. Der mächtige See, der sich an seinem unteren Ende gebildet hatte, war so weit entfernt, dass er nur wie eine winzige silberne Münze glänzte, aber Kim konnte selbst über die große Distanz die Gewalt spüren, mit der das Wasser unten aufschlug. Das Floß zitterte und ächzte. Eines der fingerdicken Taue, mit dem die Balken zusammengebunden waren, zersprang knallend, gleich darauf ein zweites. Kim fragte sich, wie lange das Floß diese Belastung noch aushalten konnte.

Aus der Tiefe wehte ein dünner, vom Grollen des Wasserfalls nahezu übertönter Schrei zu ihm empor. Kim schob sich behutsam noch ein kleines Stück weiter vor, bis er senkrecht nach unten sehen konnte.

Die Spinne pendelte am Ende ihres Fadens gute dreißig Meter weit unter ihm hin und her. Sie versuchte immer wieder, mit ihren dünnen, geschickten Beinen Halt an ihrem eigenen Faden zu finden, schaffte es aber einfach nicht, weil sie von den auf sie niederprasselnden Wassermassen so gebeutelt wurde, dass es Kim schon fast wie ein Wunder vorkam, dass sie nicht schon längst mitgerissen worden war. Wie es ihre Art war, zeterte und keifte sie dabei so wütend, dass ihre Stimme selbst über das Dröhnen des Wasserfalls hinweg noch zu hören war.

»Halt aus!«, schrie Kim. »Ich ziehe dich hoch!«

Er griff nach dem Faden und versuchte die Spinne daran in die Höhe zu ziehen, aber seine Kraft reichte nicht aus dazu. Erst als der Pack an seine Seite trat und ebenfalls mit Zugriff, gelang es ihnen, die Spinne zu sich heraufzuziehen, wenn auch buchstäblich zentimeterweise. Sie brauchten fast zehn Minuten , um die Spinne ganz nach oben zu ziehen.

Kim war so erschöpft, dass er beinahe zusammenbrach, und selbst der Pack wankte für einen Moment. Die Spinne zog sich keifend und lauthals fluchend über den Rand des Floßes, schoss einen weiteren Faden ab und wickelte ihn an einem Dutzend Stellen um die Reling, bis sie sich nahezu selbst eingesponnen hatte.

»Das wurde aber auch Zeit!«, nörgelte sie. »Muss man denn hier alles selbst machen?«

»Immerhin wissen wir jetzt, dass wir so nicht von hier wegkommen«, sagte Kim niedergeschlagen. Er sah einige Sekunden lang konzentriert nach rechts, dann in die entgegengesetzte Richtung. Das Ergebnis dieser Musterung war niederschmetternd.

Der Fluss schien an dieser Stelle ganz besonders breit zu sein. Das Ufer war auf beiden Seiten mindestens zweihundert Meter entfernt, wenn nicht noch mehr. Nicht einmal der beste Schwimmer der Welt hätte eine Chance zum Ufer zu schwimmen. Nicht bei dieser Strömung.

»Und was tun wir jetzt?«, fragte die Spinne. »Ich meine: Hast du noch mehr so geniale Ideen?«

Bevor Kim antworten konnte, tauchte die Elfe aus der stäubenden Gischt auf, ließ sich auf Kims Schulter herab und schüttelte sich das Wasser aus den Flügeln.

»Sie ist nicht da«, sagte sie schwer atmend. »Ich habe den ganzen See abgesucht, aber es gibt keine Spur von ihr. Sie muss ertrunken sein.«

»Wer?«, fragte die Spinne.

Twix drehte sich herum um zu antworten, starrte die Spinne aber dann nur wortlos und aus aufgerissenen Augen an.

»Hat sich da jemand vielleicht zu früh gefreut?«, fragte die Spinne.

»Bitte!«, sagte Kim müde. »Nicht schon wieder. Wir haben im Moment wirklich andere Sorgen!«