Mit einem kleinen Schönheitsfehler: Bei normaler Geschwindigkeit hätte er mindestens noch eine Stunde gebraucht um die rettenden Mauern der Stadt zu erreichen, die am Flussufer unter ihm aufragten. Selbst wenn er das Pferd bis zum Zusammenbruch antrieb, würden ihn die Verfolger wahrscheinlich einholen, lange bevor er in Gorywynn war.
Er brauchte ein Versteck.
So weit das Auge reichte, sah Kim nur leere, abgeerntete Felder und einige kleine Gehöfte. Aus dem einem oder anderen Kamin kräuselte sich Rauch, aber er konnte es nicht wagen, dorthin zu reiten. Entweder ihre Bewohner waren ihm feindlich gesonnen, dann geriet er nur vom Regen in die Traufe, oder sie standen auf seiner Seite, dann konnte er es erst recht nicht wagen, sie um Hilfe zu bitten; nicht mit einer kleinen Armee auf den Fersen.
Er ritt, so schnell er konnte, aber sein Vorsprung schmolz immer rascher zusammen. Lange bevor er auch nur die halbe Entfernung zur Stadt zurückgelegt hatte, waren die Verfolger nahe genug heran, dass er sie zweifelsfrei identifizieren konnte.
Wie es aussah, hatten Kai und sein Kinderheer die Schlacht am Fluss am Ende doch gewonnen. Der blonde Junge sprengte ein gutes Stück vor dem Rest der Truppe heran, tief über den Hals seines Pferdes gebeugt und dem Tier so rücksichtslos die Sporen gebend, dass Kim sich fragte, wie lange das Pferd dieses mörderische Tempo wohl noch durchhalten würde.
Vermutlich lange genug um mich einzuholen, dachte Kim düster. Er konnte regelrecht sehen, wie der Abstand zwischen ihnen kleiner wurde. Und zu allem Überfluss wurde sein eigenes Tier nun auch noch immer langsamer. Seine Kräfte waren erschöpft.
Er lenkte sein Pferd nach rechts, weiter auf den Fluss zu, trieb das Tier noch einmal zu größerer Schnelligkeit an, stieß sich in vollem Galopp ab und tauchte mit einem kraftvollen Hochsprung ins Wasser. Zehn oder zwölf Meter vom Ufer entfernt erst tauchte er wieder auf, nahm einen tiefen Atemzug und glitt wieder ein gutes Stück weit unter Wasser dahin, bis ihn die Atemnot ein weiteres Mal zum Auftauchen zwang.
Etwas streifte ganz sacht seine Schulter und verschwand im Wasser und nur einen Augenblick später zischten ein zweiter und dritter Pfeil heran, die ihn aber noch mehr verfehlten.
»Aufhören!«, schrie eine Stimme hinter ihm. »Seid ihr verrückt? Wir brauchen ihn lebend!«
Kim drehte schwimmend den Kopf und erblickte genau das, was er befürchtet hatte: Kai und einige der anderen hatten das Ufer erreicht und waren aus den Sätteln gesprungen. Drei oder vier Jungen hatten ihre Bogen gehoben und veranstalteten offensichtlich ein Wettschießen auf ihn. Kai aber war bereits ins Wasser gewatet und kam schnell näher.
»Warum gibst du nicht auf?«, schrie er. »Du kannst nicht entkommen!«
Statt Atem für eine Antwort zu verschwenden, griff Kim noch kräftiger aus. Die Strömung wurde stärker, je weiter er sich vom Ufer entfernte, und er gewann nun zusehends an Tempo. Aber als er noch einmal zurückblickte, erkannte er, dass Kai bereits aufgeholt hatte. Der Junge war ein viel besserer Schwimmer als er.
Trotzdem gab er nicht auf, sondern sah in die entgegengesetzte Richtung, nach Gorywynn. Die Stadt schien noch unendlich weit entfernt. Selbst ohne Kai und die anderen auf den Fersen würde er sie auf diesem Wege kaum erreichen.
»Kim, verdammt noch mal, komm zurück!«, schrie Kai. »Willst du ertrinken, du Idiot?«
Kim schwamm nur noch schneller, obwohl das gar nicht mehr nötig erschien. Die Strömung war mittlerweile so stark geworden, dass er nicht einmal mehr sicher war, sich aus eigener Kraft daraus befreien zu können.
Kai schrie irgendetwas, das er nicht mehr verstand, schwamm schneller und holte ihn so mühelos ein, dass es schon fast lächerlich war. Seine rechte Hand schloss sich um Kims Fuß. Kim trat mit dem anderen Bein nach ihm, verfehlte ihn aber und kam durch diese Bewegung vollends aus dem Takt. Er ging unter, schluckte Wasser und geriet in Panik. Wild mit den Armen um sich schlagend wirbelte er durch die Strömung, gelangte durch pures Glück noch einmal an die Oberfläche und sog sich die Lungen voller Luft. Dann war Kai vollends über ihm, umschlang ihn mit den Armen und drückte ihn wieder unter Wasser.
Kim kämpfte mit verzweifelter Kraft, aber er hatte keine Chance. Kai war viel stärker als er. Erst als seine Lungen zu platzen schienen und er nur noch einen Sekundenbruchteil davon entfernt war, den Mund zu öffnen und einen tödlichen Atemzug zu nehmen, ließ Kai ihn los, stieß ihn an die Wasseroberfläche und gestattete ihm Luft zu holen. Während Kim würgend und hustend nach Atem rang, drehte er ihm den Arm auf den Rücken, schlang den anderen Arm von hinten um seinen Hals und bog ihm brutal den Kopf in den Nacken; der typische Rettungsschwimmergriff, der es Kim vollkommen unmöglich machte, sich zu befreien.
»Du blöder Trottel!«, schrie Kai. »Was hast du vor? Willst du uns beide umbringen? Wenn ja, dann stehen deine Aussichten nicht schlecht!«
Kim verstand im ersten Moment nicht, wovon er sprach. Kai hatte sich auf den Rücken gedreht und versuchte bereits wieder in Richtung Ufer zu schwimmen.
Als Kims Atem sich einigermaßen beruhigt hatte und er wieder zu halbwegs klarem Denken fähig war, wurde ihm bewusst, dass sie sich keineswegs dem Ufer näherten. Ganz im Gegenteil wurden sie langsam, aber unerbittlich immer weiter in die Flussmitte hinausgezogen.
»Die Strömung!«, japste er. »Sie ist zu stark!«
»Was du nicht sagst, Schlaumeier!«, antwortete Kai.
»Du schaffst das nicht allein«, keuchte Kim. »Lass mich los. Zu zweit schaffen wir es vielleicht!«
Kai schwieg einen Moment, aber dann ließ er seinen Arm tatsächlich los.
Doch es war zu spät.
Die Strömung wurde buchstäblich mit jeder Sekunde stärker. Kim drehte sich herum und legte jedes bisschen Kraft, das er aufbringen konnte, in seine Schwimmbewegungen.
Ohne Erfolg. Ebenso wie Kai wurde er immer schneller und schneller mitgerissen.
»Was ist das?«, schrie Kim. Die Panik war wieder da. Noch konnte er sie niederhalten, aber er wusste nicht, wie lange.
»Der Strudel!«, schrie Kai zurück. »Niemand kann ihm entkommen! Wir werden beide ertrinken!«
Noch bevor Kim etwas antworten konnte, griff die Strömung mit plötzlich vervielfachter Kraft nach ihm, riss ihn regelrecht zurück und wirbelte ihn wild hin und her. Kai erging es nicht besser.
Kim begann sich immer schneller und schneller zu drehen. Er wurde unter Wasser gezogen, wieder ausgespien und erneut in die Höhe gewirbelt. Der Fluss schien sich in irrsinnigem Tempo um sie herum zu drehen. Der Strudel, von dem Kai gesprochen hatte, hatte sie nunmehr vollends ergriffen. Die Wasseroberfläche war plötzlich über ihnen und Kim begriff voller Entsetzen, dass sie sich nun beide in einem Trichter aus Wasser befanden, der sie mit erbarmungsloser Kraft und immer schneller werdend in die Tiefe riss.
Im allerletzten Moment nahm er noch ein tiefen Atemzug. Dann waren Kai und er im Zentrum des Trichters und wurden unter Wasser gezerrt.
Die schiere Kraft der Strömung riss sie auseinander. Kim sah noch ein flüchtiges helles Aufblitzen neben sich, dann war Kai verschwunden und er verschwendete auch keinen Gedanken mehr an den jungen Steppenreiter, denn auch er wurde immer rascher herumgewirbelt und weiter und weiter in die Tiefe gezerrt. Dies musste nun das Ende sein. Die Wasseroberfläche lag scheinbar unendlich weit über ihm wie ein zerbrochener, in hellem Aufruhr begriffener Spiegel. Selbst wenn es ihm gelang irgendwie aus dem Sog zu entkommen, würde das bisschen verbliebene Luft in seinen Lungen wahrscheinlich nicht mehr reichen um nach oben zu kommen.