Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, spie der Strudel ihn aus. Kim wurde wie ein Kreisel durch das Wasser gewirbelt und kämpfte immer verzweifelter gegen den Drang Luft zu holen. Er wollte schwimmen, irgendwie nach oben kommen, aber seine Kräfte reichten nicht mehr.
Seine Sinne begannen sich bereits zu verschleiern. In seiner Brust tobte ein fast unerträglicher Schmerz und er konnte kaum noch irgendetwas erkennen.
Wie durch einen immer dichter werdenden Nebel sah er etwas auf sich zugleiten; eine riesige, silberne Kugel, die mit ruckhaften kleinen Bewegungen aus der Höhe auf ihn herabstieß und bei der es sich zweifellos nur um eine Halluzination handeln konnte. Er würde jetzt sterben. Seine Fantasie begann ihm bereits Dinge vorzugaukeln, die nicht da waren. Seine Bewegungen wurden schwächer. Seine Lungen drohten zu platzen.
Dann war die silberne Kugel heran, stülpte sich über ihn und Kim konnte atmen.
Er fiel auf die Knie, rang keuchend nach Luft und sah einen weißen Schemen aus den Augenwinkeln. Lange, dürre Beine streckten sich in seine Richtung, hielten ihn fest und richteten ihn halbwegs wieder auf. Kim begriff nicht wirklich, was die Spinne tat - schon gar nicht, als sie mit zwei Beinen nach seiner Hemdtasche tastete und dann hineinlugte.
»Kai«, würgte er mühsam hervor. »Wo ist... Kai?«
»Der ist gerade beschäftigt«, antwortete die Spinne. »Mit Ertrinken.«
»Hol ihn«, keuchte Kim.
»Fällt mir nicht ein«, antwortete die Spinne. »Der Kerl wollte dich umbringen.«
»Bring ihn her!«, wollte Kim befehlen, brachte aber kaum mehr als ein Husten und Keuchen zustande. Die Spinne starrte ihn noch eine Sekunde lang störrisch an, drehte sich aber dann herum und war verschwunden.
Kim sah sich schwer atmend um. Er hockte im Zentrum einer gut anderthalb Meter messenden luftgefüllten Kugel, deren Wände wie ein gekrümmter Spiegel schimmerten, trotzdem aber halb durchsichtig waren. Die Luft roch scharf, streng und ein bisschen nach Chemie, war aber sehr sauerstoffreich. Aber wo war sie hergekommen?
Ein Schrei und ein dumpfer Aufprall ließen ihn herumfahren. Die Spinne war zurückgekommen und sie hatte Kai tatsächlich mitgebracht. Der junge Steppenreiter lag auf dem Boden und hatte offensichtlich das Bewusstsein verloren, lebte aber noch. Seine Brust hob und senkte sich in schnellen Stößen.
»Du hattest völlig Recht«, sagte die Spinne. »Es war richtig, ihn zu retten.«
»Gut gemacht«, lobte Kim, während er neben Kai niederkniete und seinen Kopf in den Nacken bog, damit er besser atmen konnte.
»Ich mag kein totes Fleisch«, fuhr die Spinne fort. »Es hat einen so strengen Beigeschmack.«
»Du kannst ihn nicht essen«, sagte Kim.
»Wie bitte?« Die Spinne plusterte sich auf. »Das kann doch nicht wahr sein! Wie kommt es eigentlich, dass ich jedes Mal die Dumme bin, wenn ich etwas für dich tue?«
Kai erwachte hustend, wälzte sich auf die Seite und öffnete blinzelnd die Augen.
Eine Sekunde später setzte er sich kerzengerade auf und starrte die Spinne an. Er gab keinen Laut von sich, aber er wurde noch blasser und seine Augen quollen vor Entsetzen fast aus den Höhlen.
»Keine Angst«, sagte Kim rasch. »Sie ist harmlos.«
»Sie ist vor allem hungrig«, fügte die Spinne hinzu. Sie tippte Kai mit einem Bein an und klapperte mit den Giftzähnen. »Viel dran ist an dem Burschen ja nicht, aber für zwischendurch ...«
Kai ächzte und Kim hatte trotz des Ernstes der Situation alle Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.
»Wirklich, keine Sorge«, sagte er. »Sie hat manchmal eine komische Art von Humor, aber sie ist schon in Ordnung.«
»Wieso ...« Kai schüttelte den Kopf, rückte so weit von der Spinne fort, wie es in der Enge der Luftblase möglich war, und sah sich dann um. »Wo sind wir?«
»Das wüsste ich auch gerne«, sagte Kim, nun direkt an die Spinne gewandt. »Wie hast du das gemacht?«
»Die Luftblase?« Die Spinne machte eine Bewegung, die vielleicht ein Achselzucken sein sollte, bei einem Geschöpf mit acht Beinen aber einigermaßen komisch aussah.
»Ich habe es eben gemacht. Ehrlich gesagt, ohne viel darüber nachzudenken. Allerdings hätte ich mir ein wenig mehr Dankbarkeit erwartet.«
Kim ignorierte den letzten Satz. Er hatte sogar eine ungefähre Vorstellung davon, was passiert war. Auch in seiner Heimat gab es gewisse Arten von Spinnen, die mit einer selbst gemachten Luftblase tief unter Wasser tauchten um Beute zu fangen. Natürlich keine von so enormer Größe ...
»Wie lange reicht die Luft hier drinnen?«, fragte er.
»Nicht sehr lange«, antwortete die Spinne. »Für mich allein eine halbe Stunde. Aber für uns drei...«
»Dann sollten wir allmählich auftauchen«, sagte Kim. Er wandte sich an Kai. »Fühlst du dich kräftig genug?«
Kai wollte antworten, aber die Spinne kam ihm zuvor. »Das ist unmöglich. Der Strudel würde die Luftblase zerreißen.«
Kim sah sich um. Das Wasser in ihrer unmittelbaren Umgebung war relativ ruhig.
»Wir sind direkt unter dem Strudel«, sagte die Spinne, die seinen Blick bemerkt hatte. »Sozusagen im toten Winkel. Ein paar Meter weiter nach rechts oder links und es reißt uns in Stücke.«
Es dauerte einen Moment, bis Kim die ganze Tragweite ihrer Worte begriff. »Das heißt, du kannst auch keine neue Luft holen, wenn die hier drinnen verbraucht ist.«
»Ich fürchte, du hast Recht«, gestand die Spinne kleinlaut. »Die Luft wird nicht lange reichen. Nicht für drei.« Sie deutete mit zwei Beinen auf Kai. »Wenn du mir gestattet hättest ihn zu essen, hätte wir viel mehr Luft.«
Kai griff nach seinem Schwert, aber Kim machte eine rasche, abwehrende Bewegung und der junge Steppenreiter zog die Hand wieder zurück. Sein Blick ließ die Spinne jedoch keinen Sekundenbruchteil los.
»Irgendwie müssen wir hier heraus«, sagte er. »Aber das schaffen wir nur, wenn wir zusammenarbeiten.«
»Warum?«, fragte Kai spitz. »Du hast uns doch auch ganz allein in diese Situation gebracht.«
»Woher sollte ich von diesem Strudel wissen?«, fragte Kim. »Als ich das letzte Mal hier war, gab es ihn noch nicht.«
»Das letzte Mal?« Kai sah ihn misstrauisch an. »Du warst schon einmal in Gorywynn?«
»Ja«, antwortete Kim, während er sich im Stillen für die Worte verfluchte, die ihm unabsichtlich herausgerutscht waren. Kai wusste immer noch nicht, wer er wirklich war, und er hatte das sichere Gefühl, dass es besser war, wenn das auch noch eine Weile so blieb.
»Es ist lange her«, fügte er mit einem Achselzucken hinzu.
»Es muss sehr lange her sein«, sagte Kai mit sonderbarer Betonung. »Dieser Strudel ist seit dem großen Erdbeben hier, bei dem auch die Wasserfälle entstanden sind. Und das war vor meiner Geburt.«
Er sah Kim nachdenklich an und es war nicht besonders schwer zu erraten, was in diesem Moment hinter seiner Stirn vorging. Wahrscheinlich fragte er sich, wie sich ein Junge, der kaum älter sein konnte als er, an etwas erinnern konnte, das lange vor seiner Geburt passiert war.
»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Kim. »Mich interessiert der Strudel. Wohin fließt das Wasser?«
»Woher soll ich ...« Kais Augen wurden groß. »Du hast doch nicht etwa vor noch einmal dort hinauszuschwimmen?«
»Hast du eine bessere Idee?«, fragte Kim. »Wir können natürlich auch hier bleiben, bis die Luft aufgebraucht ist und wir ersticken.« Er drehte sich zur Spinne herum. »Wir brauchen ein Seil um uns aneinander festzubinden.«
»Du spinnst ja«, sagte die Spinne.
»Kannst du es oder nicht?«, fragte Kim. Irrte er sich oder war die Luft in der Blase schon schlechter geworden?