»Niemand weiß, wohin das Wasser fließt«, antwortete die Spinne. »Der Strudel könnte einen Kilometer tief nach unten führen. Oder auch zehn.«
»Probieren wir es aus«, schlug Kim vor. »Es sei denn, du ziehst es vor zu ersticken. Noch dazu mit leerem Magen.«
Das gab den Ausschlag. Die Spinne nörgelte noch einen Moment herum, begann dann aber gehorsam einen Faden zu spinnen. Während sie damit beschäftigt war, ihn zu einem stabilen Seil zu flechten, trat Kim ganz an den Rand der luftgefüllten Blase heran.
Schon auf den ersten Blick sah er, wovon die Spinne gesprochen hatte: Sie befanden sich tatsächlich nur wenige Meter von dem Strudel entfernt, der sie in die Tiefe gerissen hatte. Er ragte wie ein silberner, mitten in der Bewegung erstarrter Tornado vor ihnen empor, eine bizarre Säule, die sich hoch über ihnen trichterförmig erweiterte. Die Spinne hatte Recht: wenn sie die Luftblase verließen, mussten sie unweigerlich wieder in diesen tobenden Hexenkessel hineingezogen werden. Die Wasseroberfläche lag mindestens dreißig Meter über ihnen. Keine Chance sie zu erreichen.
»Ich bin fertig«, nörgelte die Spinne.
Kim drehte sich herum und fing das Ende des mehrfach geflochtenen Spinnenfadens auf, den sie ihm zuwarf. Die Spinne hatte in den wenigen Augenblicken, die er dagestanden und hinausgesehen hatte, ein Seil von mindestens zehn oder zwölf Metern Länge fabriziert, dessen eines Ende er sich um die Hüften schwang und sorgsam verknotete, während Kai mit dem anderen ebenso verfuhr.
»Eine seltsame Art Selbstmord zu begehen«, sagte die Spinne. Mit einem Seitenblick auf Kai und einem hörbaren Seufzen fügte sie hinzu: »Was für eine Verschwendung!«
Kim ignorierte den letzten Satz und wandte sich an Kai. »Bist du so weit?«
Der junge Steppenreiter verknotete das Seil, nickte und sagte mit einer Geste auf die Spinne: »Sie hat Recht, weißt du - es ist Selbstmord.«
»Du kannst ja hier bleiben«, sagte Kim. »Ich bin sicher, ihr beide werdet eine Menge Spaß miteinander haben. Kann ich mich auf dich verlassen?«
Kai warf der Spinne einen schrägen Blick zu und nickte dann. »Halt das Seil straff«, sagte Kim. »Ich ziehe zweimal daran, wenn du nachkommen kannst.«
»Und wenn nicht?«, fragte Kai nervös.
Kim beließ es bei einem humorlosen Grinsen als Antwort, holte noch einmal tief Luft und trat mit einem entschlossenen Schritt aus der Luftblase hinaus.
Wie er erwartet hatte, wurde er sofort von der Strömung ergriffen und auf den Strudel zugezerrt. Diesmal jedoch kämpfte er nicht dagegen an, sondern unterstützte die Bewegung im Gegenteil noch mit kräftigen Schwimmstößen, die ihn rasch auf den silbernen Wirbelsturm zutrieben. Nicht einmal eine Sekunde, nachdem er die Luftblase verlassen hatte, erreichte er den Strudel und tauchte hinein.
Er hatte das Gefühl, in Stücke gerissen zu werden. Das Wasser packte ihn. Schleuderte ihn wie ein Spielzeug herum und immer schneller im Kreis. Das Seil um seine Hüften straffte sich und Kim konnte sich lebhaft vorstellen, wie Kai jetzt mit in den Boden gestemmten Beinen dastand und ihn zu halten versuchte. Natürlich reichten seine Kräfte nicht aus. Kim wurde einfach weitergezerrt.
Gerade als er glaubte gleich ersticken zu müssen, konnte er wieder atmen. Um ihn herum war plötzlich nichts mehr.
Und nicht nur um ihn herum, sondern auch und vor allem unter ihm.
Kim schrie voller Entsetzen auf, als er begriff, wie Recht die Spinne mit ihrer Vermutung gehabt hatte.
Er befand sich in einer gigantischen Höhle, durch deren Decke das Wasser in einem brüllenden Strom hineinschoss, ehe es sich zu einem feinen Nebel verteilte, der weiter in die Tiefe stürzte. Der Boden der Höhle - wenn es überhaupt einen gab -, war nicht zu erkennen. Unter ihm war nur endlose, vollkommene Schwärze.
Kim pendelte wild am Ende des Seiles hin und her. Das Wasser stürzte noch immer mit solcher Wucht auf ihn herab, dass er kaum atmen konnte. Trotzdem erkannte er, dass er nur ein kleines Stück von der Höhlenwand entfernt war. Vielleicht drei oder vier Meter weiter weg gähnte ein fast kreisrundes Loch in der Höhlenwand. Wenn es ihm irgendwie gelang es zu erreichen, dann waren sie zumindest vorerst in Sicherheit. Die Luft in der Blase würde nicht mehr lange halten. Ganz davon zu schweigen, dass Kai ihn bestimmt nicht mehr lange würde festhalten können. Statt also gegen seine wilden Pendelbewegungen anzukämpfen, verstärkte Kim sie noch um sich auf diese Weise dem Loch in der Höhlenwand zu nähern. Seine beiden ersten Versuche, sich an dem glitschigen Fels festzuklammern, schlugen fehl, aber beim dritten Mal fanden seine weit vorgestreckten Hände Halt. Kim klammerte sich mit zusammengebissenen Zähnen fest, zog sich vollends in den Schacht hinein und gönnte sich ein paar Sekunden um wieder zu Atem zu kommen. Erst dann löste er das Seil von seiner Hüfte, schlang es um einen Felsvorsprung und zog zweimal kurz und hart daran. Im selben Moment wich alle Spannung aus dem geflochtenen Spinnfaden. Kai hatte die Luftblase verlassen. Kim griff mit beiden Händen nach dem Seil, stemmte die Füße in den Boden und versuchte sich auf den bevorstehenden Ruck vorzubereiten.
Er musste nicht lange warten. Kai tauchte wie ein fallender Stein inmitten des sprühenden Wassers auf, stürzte schreiend an ihm vorüber und verschwand in der Tiefe. Eine halbe Sekunde später wurde das Seil mit einem solchen Ruck gespannt, dass Kim nach vorne gerissen wurde und um ein Haar selbst das Gleichgewicht verloren hätte. Nur mit äußerster Kraft gelang es ihm, nicht selbst aus der Höhle gerissen zu werden, sondern Kai Zentimeter für Zentimeter zu sich hereinzuziehen. Schließlich war er nahe genug, dass Kim die Hand ausstrecken und ihn mit einem letzten Ruck heraufziehen konnte.
Kai sank erschöpft auf die Knie und auch Kim ließ sich keuchend zu Boden sinken. Seine Hände bluteten. Das Seil hatte tiefe, heftig schmerzende Schnitte darin hinterlassen.
»Wo ist die Spinne?«, fragte Kim.
»Sie wollte nicht mitkommen«, antwortete Kai. »Sie sagte, sie würde schon einen Weg finden und du sollst dir keine Sorgen um sie machen.« Er sah Kim kopfschüttelnd an. »Du bist wirklich mit dieser widerwärtigen Kreatur befreundet? Mir dreht sich schon der Magen herum, wenn ich sie nur sehe.«
»Ich wette, es geht einer Menge Leute bei deinem Anblick genauso«, sagte Kim böse. Er hob die Hand, als Kai auffahren wollte, und fuhr in verändertem Tonfall fort: »Lassen wir das. Ich schlage vor, wir schließen einen Waffenstillstand. Wenigstens so lange, bis wir hier heraus sind.«
Kai hob die Schultern. »Wie du meinst. Falls wir wieder herauskommen, heißt das.« Er sah sich um. »Hast du eine Ahnung, was das hier ist?«
Das fragte Kim sich auch. Während sie geredet hatten, hatte er sich flüchtig in ihrer neuen Umgebung umgesehen. Sie befanden sich in einem kreisrunden, gemauerten Schacht, dessen Wände bis auf halbe Höhe von einer schmierigen Schicht bedeckt waren. Die Luft war verbraucht und roch schlecht und sehr alt.
»Keine Ahnung«, sagte er achselzuckend. »Ich weiß nur, dass es künstlich zu sein scheint. Also gibt es wahrscheinlich einen Ausgang.« Er stand auf. »Suchen wir ihn.«
Zwei Stunden später war er nicht mehr so felsenfest davon überzeugt, dass dieses unterirdische Labyrinth tatsächlich einen Ausgang hatte - und schon gar nicht mehr davon, dass sie ihn finden würden.
Und es war ein Labyrinth. Die Tunnel, die von unterschiedlichem Durchmesser waren - von mächtigen Stollen mit fünf oder sechs Meter hohen Wänden bis hin zu schmalen Röhren, durch die sie nur auf Händen und Knien kriechen konnten -, verzweigten sich immer und immer wieder, sodass Kim nicht einmal sagen konnte, in welche Richtung sie sich bewegten, ob nach oben oder vielleicht gar immer weiter in die Tiefe. Oft mussten sie durch knöcheltiefes Wasser waten und einmal gingen sie ein gutes Stück am Ufer eines unterirdischen Flusses entlang.