»Was ist hier eigentlich passiert?«, fragte Kim. »Wieso ist die Wand zusammengebrochen?«
»Wieso stellst du so dumme Fragen, Tölpel?«, fragte der Zwerg. »Sie ist eben zusammengebrochen, basta.«
»Und ihr versucht sie zu reparieren«, sagte Kai höhnisch. »Eine große Aufgabe für so kleine Leute.«
»Ihr solltet jetzt gehen«, knurrte der Zwerg. »Wir haben viel zu tun.«
»Das stimmt«, sagte Kim rasch. »Ich danke euch für eure Hilfe.«
Er drehte sich herum, gab Kai einen entsprechenden Wink und steuerte rasch den Stollen an, den der Zwerg ihnen bezeichnet hatte. Erst als sie gute hundert Schritte weit in den Kanal eingedrungen waren und er sich mit einem aufmerksamen Blick davon überzeugt hatte, dass die Zwerge sie auch nicht verfolgten, blieb er stehen und wandte sich in zornigem Ton an Kai.
»Bist du verrückt geworden?«, schnappte er. »Was ist in dich gefahren? Wolltest du die Zwerge provozieren?«
»Ich kann Zwerge nicht ausstehen«, antwortete Kai trotzig. »Außerdem hast du ihnen diesen Unsinn doch nicht etwa geglaubt, oder?«
»Welchen Unsinn?«, fragte Kim.
»Dass sie den Kanal reparieren«, sagte Kai verächtlich. »Sie waren dabei, die Stollenwände einzureißen, du Narr!«
»Einzureißen?«, wiederholte Kim ungläubig. »Aber warum sollten sie das tun?«
»Woher soll ich das wissen?« Kai machte ein abfälliges Geräusch. »Warum brauchen Zwerge einen Grund um etwas zu tun? Ich konnte diese Kriecher noch nie leiden. Aber auch damit hat es bald ein Ende.«
»Wieso?«
»Weil all dieses magische Kroppzeug nicht mehr da sein wird, wenn wir erst einmal das Sagen haben«, antwortete Kai. »Die Zeiten der Magie sind vorbei. Und die magischer Wesen auch.«
»Das werden wir sehen«, sagte Kim grimmig.
»Ja«, antwortete Kai. »Das werden wir. Verlass dich darauf.« Sie sprachen kein Wort mehr miteinander, bis sie die Oberfläche erreichten.
Der Zwerg hatte ihnen den Weg durchaus richtig beschrieben. Was er nicht gesagt hatte, war, dass sie weit über eine Stunde brauchten, um die Abzweigung zu erreichen, und noch länger, um den Ausstieg zur Oberfläche zu bewerkstelligen.
Vollkommen erschöpft und so verdreckt, dass vermutlich selbst ihre besten Freunde Mühe gehabt hätten sie zu erkennen, krochen sie am späten Nachmittag hintereinander aus einem Abflussschacht.
Kim ließ sich einfach da, wo er war, zu Boden sinken, drehte sich auf den Rücken und tat für Minuten nichts anderes als einfach dazuliegen, die Wärme des Sonnenlichts auf dem Gesicht zu spüren und die herrliche, frische Luft zu genießen, die er in tiefen Zügen in die Lungen sog. Er spürte erst jetzt wirklich, wie dunkel und feucht es dort unten gewesen war und wie schlecht und verbraucht die Luft.
Erst nach einer geraumen Weile öffnete er wieder die Augen, setzte sich auf und sah sich um.
Sie befanden sich in Gorywynn, der gläsernen Stadt, ganz wie der Zwerg gesagt hatte, und doch hatte er fast Mühe, sie zu erkennen.
Gorywynn war immer die Zierde Märchenmonds gewesen, eine gewaltige Stadt aus verschiedenfarbigem Glas, die funkelte wie Kristalle und deren Schönheit und Pracht selbst im entlegensten Winkel des Landes gerühmt wurden.
Nun lag sie in Trümmern.
Im allerersten Moment glaubte Kim, dass der Krieg auch die gläserne Stadt erreicht hätte, aber er sah bald, dass es nicht die Spuren gewaltsamer Zerstörung waren, die er sah.
Gorywynn war verlassen. Die Häuser, Türme und Paläste standen leer und der Verfall hatte nach Gorywynn gegriffen. Doch es sah aus, als wäre die gläserne Stadt schon vor Jahrhunderten verlassen und aufgegeben worden, nicht erst vor kurzer Zeit.
»Was ist denn hier nur passiert?«, murmelte er fassungslos.
Er hörte, wie Kai hinter ihm aufstand, drehte sich aber nicht nach ihm herum. Sein Blick irrte mit immer größerem Entsetzen über die leer stehenden Gebäude, die geborstenen Wände und eingesunkenen Dächer, das gesprungene Straßenpflaster und den Staub und Unrat, der sich überall angesammelt hatte. Der schimmernde Kristall, aus dem die Stadt erbaut war, hatte fast überall seinen Glanz verloren und wirkte schmutzig und alt.
Gorywynn konnte jedoch nicht ganz verlassen sein. Kim hörte undeutlich ferne Laute, die ihn zumindest hoffen ließen, hier noch auf menschliches Leben zu stoßen.
Er hörte ein Geräusch, dem er im ersten Moment keine Beachtung schenkte. Dann aber drehte er sich doch herum.
Kai hatte sein Schwert gezogen. Die Spitze der Waffe deutete drohend auf Kims Herz.
»Was soll das?«, fragte Kim ruhig. »Wir haben eine Abmachung getroffen.«
Kai nickte. Sein Gesicht starrte so sehr vor Schmutz, dass der Ausdruck darauf kaum zu erkennen war. Dafür war das entschlossene Funkeln in seinen Augen umso deutlicher.
»Waffenstillstand, bis wir aus der Kanalisation heraus sind«, bestätigte er. »Wir sind heraus.«
Kim betrachtete Kai abschätzend. »Ich habe aber keine Waffe«, sagte er.
Kai grinste. »Pech für dich. Und ich bin ganz bestimmt nicht so dumm, mein Schwert einzustecken und mich auf eine Prügelei mit dir einzulassen - falls du darauf spekulierst.«
Das hatte Kim tatsächlich - auch wenn er ganz und gar nicht sicher war Kai tatsächlich überwältigen zu können. Er zuckte mit den Achseln.
»Du wirst mich nicht niederstechen«, sagte er. »Dein Herr will mich lebendig.«
»Aber nicht unbedingt unverletzt«, sagte Kai - und machte einen blitzschnellen Ausfall, mit dem er Kim einen zwar harmlosen, aber heftig schmerzenden Stich im Oberschenkel beibrachte.
Kim fiel mit einem mehr überraschten als wirklich schmerzerfüllten Schrei auf ein Knie herab, presste die rechte Hand auf seinen Oberschenkel und starrte sekundenlang verblüfft auf das hellrote Blut, das zwischen seinen Fingern hervorquoll.
»Warum hast du das gemacht?«, fragte er.
Kai stieß sein Schwert in die Scheide, trat mit einem Schritt neben ihn und riss ihn grob in die Höhe.
»Nur damit du nicht auf dumme Ideen kommst«, sagte er hart. »Aber mach dir keine Sorgen - draußen vor der Stadt wartet ein gutes Pferd auf dich.«
Er stieß Kim vor sich her, musste ihn aber zugleich auch stützen, damit er nicht zusammenbrach. Der Stich in seinem Oberschenkel tat kaum noch weh, aber in seinem Bein war auch keine Kraft mehr.
»Bitte, Kai!«, sagte Kim. »Das ist doch verrückt! Wir sind doch keine Feinde!«
»Ach nein?«, fragte Kai. »Sind wir nicht?«
»Feinde retten sich nicht gegenseitig das Leben, oder? Keiner von uns wäre hier, wenn wir nicht zusammengearbeitet hätten!«
»Das war etwas anderes«, sagte Kai. Seine Stimme klang bei diesen Worten nicht ganz überzeugt. Trotzdem fügte er hinzu: »Außerdem sind wir nur durch deine Schuld überhaupt erst in Gefahr geraten.«
»Das klingt ziemlich nach einer Entschuldigung, meinst du nicht selbst?«, fragte Kim.
Kai ließ einen zornigen Laut hören und stieß ihn ein bisschen heftiger an, als nötig gewesen wäre. »Hör auf zu quatschen«, sagte er grob. »Ich an deiner Stelle würde mich ein wenig beeilen. Dein Bein blutet ganz schön, weißt du?«
»O ja, und ihr habt bestimmt einen alten und erfahrenen Arzt bei euch, wie?«
»Wir haben Verbandszeug«, knurrte Kai. »Das wird reichen.« Kim humpelte mühsam weiter - mühsamer, als eigentlich notwendig gewesen wäre. Sein Bein schmerzte jetzt kaum noch und auch das Schwächegefühl war nicht mehr so schlimm wie bisher. Trotzdem machte er sich nichts vor. Die Verletzung war vielleicht nicht schwer, ließ aber jeden Fluchtversuch von vornherein aussichtslos werden. Kais Angriff war sicher heimtückisch gewesen, hatte seinen Zweck aber erfüllt.
Die Geräusche, die er vorhin schon gehört hatte, wurden nun lauter. Sie erreichten das Ende der Straße und standen plötzlich vor einem großen, halbrunden Platz, auf dem sich ihnen ein Anblick bot, der Kim im ersten Moment vollkommen überraschte.