Mehrere Dutzend Männer, Frauen, aber auch Kinder und Alte waren damit beschäftigt, einen kleinen Markt auf dem Platz aufzuschlagen. Nichts an diesem Anblick war irgendwie ungewöhnlich - aber Kim hätte kaum noch zu hoffen gewagt, etwas so Normales noch einmal zu Gesicht zu bekommen.
»Was ist denn hier los?« Kai runzelte überrascht die Stirn.
»Sieht so aus, als wäre eure kleine Revolution noch nicht überall ausgebrochen«, sagte Kim. Er wollte weitergehen, aber Kai hielt ihn grob an der Schulter zurück.
»Du bleibst hier!«, sagte er. »Es gibt noch andere Wege aus der Stadt!«
»Kaum«, antwortete Kim und griff nach Kais Arm.
Der junge Steppenreiter reagierte genauso, wie er erwartet hatte: Er versuchte seinerseits nach Kims Arm zu greifen und machte gleichzeitig einen Schritt zurück und Kim folgte ihm blitzschnell nach, verdrehte seinen Arm und brachte ihn mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht. Kai machte ein ziemlich überraschtes Gesicht, als er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und einen fast albern aussehenden halben Salto schlug.
Kim wartete nicht ab, bis er auf den Boden knallte, sondern fuhr herum und humpelte los, so schnell er konnte. Sein Bein begann augenblicklich wieder zu schmerzen und die Stichwunde blutete heftiger. Trotzdem biss er die Zähne zusammen und versuchte sein Tempo sogar noch zu erhöhen; wenn auch nur mit mäßigem Erfolg.
Hinter ihm begann Kai zornig zu brüllen und Kim konnte hören, wie er sich aufrappelte und zur Verfolgung ansetzte.
Aber der kurze Zwischenfall war auch auf dem Markt nicht unbemerkt geblieben. Fast alle hatten ihre Arbeit unterbrochen und sahen fragend oder auch verärgert in ihre Richtung. »Bleib stehen!«, schrie Kai. »Du sollst stehen bleiben, verdammt!«
Kim blieb nicht stehen, sondern humpelte im Gegenteil sogar noch schneller und begann zu schreien und mit den Armen zu winken.
»Hilfe!«, brüllte er. »Er will mich umbringen!«
Möglicherweise klangen seine Worte nicht besonders glaubhaft - aber sein heftig blutendes Bein wirkte dafür umso überzeugender. Einige Männer ließen von ihrer Arbeit ab und liefen auf ihn zu. Kim legte noch einen letzten, fast verzweifelten Endspurt ein, stolperte und fiel schmerzhaft auf die Knie. Aber er war in Sicherheit. Kai hatte ihn zwar beinahe eingeholt, aber auch die Männer waren heran.
»Was ist hier los?«, herrschte einer von ihnen. »Was soll der Unsinn?«
»Helfen Sie mir!«, keuchte Kim. »Er will mich umbringen! Er ist völlig verrückt geworden!« Er übertrieb hoffnungslos, aber seine Worte taten ihre Wirkung. Zwei der Männer traten mit raschen Schritten zwischen ihn und Kai und auch die Übrigen nahmen eine eindeutig drohende Haltung an.
»Was geht hier vor?«, fragte der Mann, der zuerst gesprochen hatte. »Seid ihr übergeschnappt?«
»Misch dich nicht ein!«, antwortete Kai trotzig. In seinen Augen funkelte es kampfeslustig und seine rechte Hand lag auf dem Schwertgriff.
»Wie bitte?«, fragte der Mann. Sein Gesicht verfinsterte sich. »Was fällt dir ein, Bürschchen? Hüte deine Zunge oder ich ziehe dir den Hosenboden stramm!«
»Der Kerl lügt!« Kai deutete anklagend auf Kim. »Ich habe ihm nichts getan. Er hat -«
»Er«, unterbrach ihn der Mann scharf, »blutet. Und du hast ein Schwert, das ziemlich locker zu sitzen scheint. Also erzähl mir nicht, dass er lügt, sondern sag mir lieber, was hier los ist!«
»Das geht euch gar nichts an«, antwortete Kai trotzig. »Ich sage es euch nicht noch einmaclass="underline" Mischt euch nicht ein!«
Und damit legte er die Hand um den Griff seines Schwertes. Die Reaktion des Mannes war jedoch ganz anders, als Kim - und auch Kai - erwartet hatte. Er starrte Kai eine Sekunde lang aus aufgerissenen Augen an - und begann dann schallend zu lachen.
»Mach dich nicht lächerlich, Jungchen«, sagte er. »Geh nach Hause und leg das Schwert zurück, ehe dein Vater merkt, dass du es genommen hast.«
Kais Miene verdüsterte sich noch mehr. Er hatte das Schwert halb aus der Scheide gezogen, doch angesichts der Übermacht, der er gegenüberstand, war er allerdings klug genug die Bewegung nicht zu Ende zu führen.
»Sei vorsichtig, Derk«, sagte einer der anderen Männer. »Vielleicht ist das einer von ihnen.«
»Glaube ich nicht«, sagte Derk. Trotzdem spannte sich seine Erscheinung sichtbar und er betrachtete Kai mit neuer Aufmerksamkeit. »Ist das wahr?«, fragte er. »Gehörst du zu diesen Verrückten?«
»Und wenn?«, fragte Kai patzig.
»Dann solltest du lieber machen, dass du wegkommst«, grollte Derk. »Ihr habt in der Stadt nichts zu suchen.« Er fuhr auf dem Absatz herum und funkelte Kim an. Alle Freundlichkeit war aus seinem Blick gewichen - und auch jede Spur von Mitleid. »Und das gilt auch für dich. Verschwinde von hier. Wir haben mit eurem Streit nichts zu schaffen.«
»Ich gehöre nicht zu ihm«, beteuerte Kim. »Und außerdem kann ich kaum laufen. Ich bin verletzt!«
Derk gab einem der anderen einen Wink. »Verbindet sein Bein«, sagte er. »Und dann jagt ihn davon!«
Kim schwieg vorsichtshalber. Derk und die anderen waren sehr zornig, das spürte er. Offensichtlich hatten sie mit Kais Leuten keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Und auch ihm war klar, dass es sinnlos sein musste, seine Unschuld weiter zu beteuern. Er war in Kais Alter und unter all dem Schmutz trug er sogar die gleiche Art von Kleidung. Wie konnten sie ihm also glauben? Er an ihrer Stelle hätte es auch nicht getan.
Kai zögerte noch einen letzten Moment, aber dann stieß er das Schwert mit einem Ruck in die Scheide zurück, warf ihm noch einen Unheil verheißenden Blick zu und drehte sich dann mit einer abrupten Bewegung herum um zu gehen. Doch er würde wiederkommen. Und wahrscheinlich eher, als Kim lieb war. Kim stand auf, humpelte zu einem der Marktstände und ließ es zu, dass eine der Frauen ein Messer nahm und sein Hosenbein vollends auftrennte. Drei oder vier Kinder standen wortlos dabei und gafften, während die Frau mit schnellen, aber nicht besonders sanften Bewegungen einen Verband an seinem Oberschenkel anlegte.
»Der Stich ist nicht schlimm«, sagte sie, als sie fertig war. »Es wird wehtun, aber wenn du die Wunde sauber hältst, wird sie gut heilen.«
»Danke«, murmelte Kim.
Die Frau schüttelte seufzend den Kopf. »Das kommt davon, wenn Kinder Krieg spielen«, sagte sie.
»Ich habe nichts mit dem Magier der Zwei Berge zu schaffen«, sagte Kim.
Die Frau wollte antworten, aber Derk rief von weitem: »Sprich nicht mit ihm! Er soll verschwinden!«
Kim wollte der Frau keine Schwierigkeiten bereiten und so nickte er nur dankbar, stand auf und humpelte los.
Er war kaum fünf Schritte weit gekommen, als hinter ihm schon wieder Lärm aufkam: Schreie, ein Scheppern und Bersten und das Geräusch eisenbeschlagener Hufe. Erschrocken fuhr er herum, darauf gefasst, Kai zu erblicken, der mit Verstärkung zurückkam.
Es war nicht Kai.
Es war viel schlimmer.
Mindestens ein Dutzend Reiter in schweren Kettenhemden und Helmen sprengte rücksichtslos über den Platz heran, wobei sie alles und jeden niederritten, der ihnen im Weg war. Männer und Frauen sprangen entsetzt beiseite, Marktstände und Karren stürzten um und gingen zu Bruch und immer mehr und mehr Reiter tauchten am Ende des Platzes auf, eine regelrechte kleine Armee. Angeführt wurde sie von einem riesenhaften, bärtigen Reiter, der sein Schwert auf dem Rücken trug. Kim kannte ihn. Es war der Mann, mit dem er im Wirtshaus aneinander geraten war und der sich mit Kai die Schlacht bei der Fähre geliefert hatte.
Kim begann zu rennen. Hinter ihm wurde ein ganzer Chor wütender Stimmen laut, dazu Geräusche wie von einem Kampf, aber er sah nicht zurück, sondern rannte, so schnell er konnte.
Er hatte den Platz schon zu einem Gutteil überquert und beinahe die Seitenstraße erreichte, als ihn der erste Reiter einholte. Unmittelbar hinter ihm dröhnten plötzlich eiserne Pferdehufe auf Glas. Kim spürte die Bewegung mehr, als er sie sah, warf sich instinktiv zur Seite und entging so um Haaresbreite einer riesigen Hand, die nach ihm griff. Er verlor durch die abrupte Bewegung aber auch das Gleichgewicht, sodass er ungeschickt gegen die Wand fiel, während der Reiter an ihm vorüberpreschte und dabei versuchte sein Pferd wieder herumzureißen.