Voller Ungeduld sah er zur Festung hin. Wo blieb Themistokles?
Kim wartete eine gute Dreiviertelstunde, ohne dass sich hinter den weit offen stehenden Toren irgendetwas rührte, und er musste sich in dieser Zeit zweimal tiefer in seine Deckung zurückziehen, weil weitere Reiter an ihm vorüberjagten. Seine Verfolger meinten es wirklich ernst.
Schließlich aber änderte sich die Situation - wenn auch ganz und gar nicht so, wie Kim es sich gewünscht hätte.
Er hörte wieder Hufschläge und wich tiefer in den Schutz der Toreinfahrt zurück, deren Schatten ihn schon dreimal vor der Entdeckung bewahrt hatten.
Diesmal jedoch sprengten keine weiteren Reiter an ihm vorüber. Trotzdem wurde der Hufschlag lauter. Kim wartete einen Moment, dann bewegte er sich vorsichtig aus seinem Versteck heraus und lugte um die Ecke.
Die Anzahl der Reiter auf dem Platz hatte sich mehr als verdoppelt. Kai war zurückgekommen. Und er hatte eine Menge Freunde mitgebracht.
Die beiden ungleichen Heere - Kais weiß gekleidete Reiter waren den anderen an Zahl mindestens um das Dreifache überlegen und sie erhielten noch immer laufend Verstärkung - standen sich an zwei Seiten des Platzes gegenüber. Kai und der bärtige Anführer der anderen Truppe hatten sich in der Mitte des Platzes getroffen und stritten offenbar heftig miteinander. Die Feindseligkeit, die in der Luft lag, war fast greifbar. »Gleich schlagen sie sich die Schädel ein«, sagte eine Stimme hinter Kim. »Wer weiß - vielleicht wäre das nicht die schlechteste Lösung.«
Kim fuhr erschrocken herum und blickte in ein Gesicht, das ihm unter etwas weniger dramatischen Umständen wahrscheinlich zum Lachen gereizt hätte.
Der Junge musste ungefähr in seinem Alter sein. Er war ein gutes Stück größer als Kim. Dabei aber so dürr, dass Kim sich fragte, wieso er eigentlich nicht bei der ersten unvorsichtigen Bewegung in der Mitte durchbrach. Sein Gesicht war blass und schmal, aber über und über mit Sommersprossen gesprenkelt und er schielte ein bisschen. Seine Kleider bestanden nur aus Fetzen, machten aber sonderbarerweise trotzdem einen fast vornehmen Eindruck. Das Eigenartigste aber waren seine Haare. Sie waren feuerrot, fast schon leuchtend, und standen buchstäblich in allen Richtungen von seinem Kopf ab; wie bei einer Comicfigur, die in eine Steckdose gegriffen hat, dachte Kim.
»Wer ... wer bist du?«, fragte er, sah sich hastig um und fügte hinzu: »Und wo kommst du her?«
»Mein Name ist Sturm«, antwortete der sommersprossige Junge. Kims zweite Frage ließ er unbeantwortet. Stattdessen stellte er seinerseits eine Frage:
»Was tust du hier? Falls du es noch nicht gemerkt hast: Hier wird es gleich ziemlich ungemütlich. Mit den Burschen da ist nicht zu spaßen.«
»Ich weiß«, antwortete Kim. »Und ich fürchte sogar, es ist meine Schuld, dass sie überhaupt hier sind.«
Sturm sah ihn einen Moment verständnislos an, aber dann hellte sich sein Gesicht auf. »Du bist der, den sie suchen.«
»Woher weißt du das?«, fragte Kim.
Sturm lachte. Ein plötzlicher Windstoß fauchte durch die Straße und riss Kim beinahe von den Füßen. »Du bist gut!«, sagte er. »Die ganze Stadt spricht über nichts anderes. Sie haben den Burgfrieden gebrochen, nur um dich in die Hände zu bekommen! Was ist an dir eigentlich so verdammt wichtig?«
Kim schwieg und Sturm nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Und was hast du jetzt vor?«
»Ich muss zu Themistokles«, sagte Kim.
Sturm ächzte. »Dort hinein?«
Er deutete auf das Tor. Kai und der Bärtige standen sich noch immer hoch zu Ross gegenüber und schrien sich wild gestikulierend Drohungen zu. Auf der einen Seite des Platzes standen mindestens fünfzig, auf der anderen Seite an die zweihundert Reiter, bereit beim geringsten Anlass ihre Waffen zu ziehen und übereinander herzufallen.
Kim nickte und Sturm sagte kopfschüttelnd: »Dann hast du ein Problem!«
»Ja«, sagte Kim leise. »Aber ich will dich nicht mit hineinziehen. Verschwinde lieber.«
»Wieso?«
»Du hast es doch selbst gesagt«, antwortete Kim. »Es könnte gefährlich werden.«
»Gefahr ist mein Lebenselixier«, behauptete Sturm großspurig. »Wenn du unbedingt in die Festung willst, dann bringe ich dich hinein.«
Kim sah den sommersprossigen Burschen spöttisch an. »Ach, und wie, wenn ich fragen darf?«
»Gib mir einen Moment Zeit«, sagte Sturm. »Ich lasse mir etwas einfallen.«
Kim schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts, sondern sah sich mit wachsender Nervosität um. Der Wind hatte nicht nachgelassen, sondern eher noch an Kraft zugenommen; eigentlich zum ersten Mal, seit Kim in Märchenmond angekommen war. Sturms Fetzenkleider befanden sich in ununterbrochener flatternder Bewegung, sodass es fast aussah, als lebten sie. Und die Brise flaute nicht etwa ab, sondern schien im Gegenteil beständig zuzunehmen.
»Also gut«, sagte Sturm. »Gehen wir.«
Er deutete auf die schmale Gasse zwischen den beiden Heeren und Kim starrte ihn fassungslos an. »Ist das etwa dein famoser Plan?«, ächzte er.
»Die einfachsten Ideen sind oft die besten«, antwortete Sturm, deutete grinsend nach oben und wurde dann schlagartig wieder ernst. »Hier wird es gleich ziemlich ungemütlich. In ein paar Minuten werden deine Freunde ganz andere Sorgen haben als nach dir zu suchen.«
Damit hat er wahrscheinlich Recht, dachte Kim. Der Wind wurde immer heftiger, sodass er schon fast Mühe hatte, ruhig auf der Stelle zu stehen. Der Himmel über Gorywynn bezog sich mit fast unheimlicher Schnelligkeit mit schweren, dunklen Regenwolken. Über der gläsernen Stadt braute sich ein Unwetter zusammen.
»Also los!« Sturm versetzte ihm einen Stoß, der ihn aus der Straße heraus und ein paar Schritte auf den Platz hinaus taumeln ließ, bevor er sein Gleichgewicht wieder fand, und das reichte. Zahlreiche Köpfe auf beiden Seiten wandten sich in ihre Richtung und Kim hätte Kais überraschten Ausruf nicht einmal mehr hören müssen um zu begreifen, dass er entdeckt worden war.
Eine neuerliche, noch stärkere Windböe traf ihn wie ein Faustschlag im Rücken und ließ ihn weitertaumeln, zu seinem eigenen Entsetzen auf die beiden verfeindeten Heere zu.
Er konnte nicht mehr zurück, also hörte er auf gegen den Wind anzukämpfen, sondern setzte alles auf eine Karte und rannte auf die Reiter zu. Die Verblüffung über diese so offensichtlich irrsinnige Aktion verschaffte ihm eine weitere Sekunde, in der ihm die Reiter einfach nur verwirrt anstarrten, dann aber setzten sich zahlreiche Männer und Jungen in Bewegung und sprengten auf ihn los.
Nicht einer kam ihm auch nur nahe.
Ein gewaltiger Donnerschlag ließ die gesamte Stadt erbeben und gleichzeitig heulte ein Sturmböe über den Platz, wie Kim sie noch nie erlebt hatte. Er wurde von den Füßen gerissen und schlitterte hilflos meterweit über das gläserne Pflaster, aber er war nicht der Einzige, dem es so erging. Etliche Reiter wurden einfach aus den Sätteln geblasen, viele andere stürzten zu Boden, als sich ihre Pferde aufbäumten und sie abwarfen. Und der Sturm wurde mit jeder Sekunde stärker. Kim stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch, aber nur um sofort von einer weiteren Böe gepackt und noch härter zu Boden geschleudert zu werden. Das Brüllen des Sturmes wurde zu einem Kreischen und Heulen, das jeden anderen Laut erstickte und fast in seinen Ohren wehtat. Er konnte kaum noch sehen. Rings um ihn herum herrschte das reinste Chaos. Pferde bäumten sich auf und warfen ihre Reiter ab, Männer und Jungen torkelten mit hilflos wirbelnden Armen vorüber oder schlitterten über den spiegelglatten Boden, losgerissenes Sattelzeug und Waffen flogen wie tödliche Geschosse durch die Luft. Aus dem Sturm war ein Orkan geworden und seine zerstörerische Gewalt nahm mit jeder Sekunde noch mehr zu.
Dann sah er etwas, was ihn für einen Moment an seinem Verstand zweifeln ließ.