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Dann nannte er sich in Gedanken einen Dummkopf, drehte sich mit einer schnellen Bewegung herum und ging zum Haus zurück. Er hatte sich getäuscht. Jemand trug eine rote Jacke und eine neongrüne Mütze. Die Punker hatten überhaupt keinen Grund, nach ihm zu suchen. Er war ganz sicher.

Immerhin so sicher, dass er nicht nur die Tür hinter sich abschloss, sondern auch die Sicherheitskette vorlegte und gute zwei Minuten durch den Spion auf die Straße hinausspähte.

Nichts rührte sich. Die Straße blieb leer. Er hatte sich also doch nur eingebildet, den Piraten zu sehen.

Einigermaßen beruhigt ging er ins Wohnzimmer zurück, schaltete den Fernseher ein und nahm eine Videokassette aus dem Geheimfach hinter dem Flaschenregal, von dem sein Vater glaubte, er wisse nichts davon, und in dem er die richtig guten Filme aufbewahrte.

Es war jedoch seltsam. Bei Kim kam keine richtige Begeisterung auf, während er Arnold Schwarzenegger als Terminator dabei zusah, wie er Autos in die Luft jagte und feindliche Roboter zu Schrott schoss. Nach weniger als einer halben Stunde schaltete er ab, ging in die Küche und knabberte eine Weile lustlos an dem halben Hühnchen herum, das ihm seine Mutter in den Kühlschrank gestellt hatte.

Er war hungrig, hatte aber keinen Appetit und stellte den Teller nach ein paar Augenblicken wieder zurück. Was war nur mit ihm los?

Natürlich wusste er die Antwort im Grunde sehr genau.

Es hatte mit dem albernen Kinderspielzeug zu tun, das Vater Rebekka aus der Buchhandlung mitgebracht hatte.

Also tat er das einzig Vernünftige: Er ging in Rebekkas Zimmer hinüber um sich das verdammte Ding noch einmal in aller Ruhe anzuschauen.

Es hatte zu dämmern begonnen, sodass er das Licht einschalten musste. Rebekkas Zimmer war ein riesiges Chaos. Seine Schwester war nämlich darin, Unordnung zu machen, sehr viel talentierter als irgendein Mensch, den Kim kannte. Kim musste mit vorsichtigen Schritten durch das Zimmer staksen um nicht irgendwo draufzutreten oder zu stolpern und der Versuch, in dem Durcheinander in den Regalen ein Objekt von der Größe der Glaskugel zu finden, erschien ihm geradezu lächerlich.

Doch er musste nicht lange suchen. Die Glaskugel stand auf Rebekkas Nachttischchen.

Kim nahm sie vorsichtig in die Hand. Sie war überraschend schwer. Statt aus billigem Plastik wie erwartet, schien sie tatsächlich aus Metall und Glas zu bestehen.

Und das war noch längst nicht alles.

Die Glaskugel fühlte sich sonderbar warm in seiner Hand an. Sie war so kühl und glatt wie Glas, zugleich aber hatte er beinahe das Gefühl, etwas Lebendiges zu berühren. Und das pastellfarbene Etwas in ihrem Inneren sah wirklich wie eine auf fünf Zentimeter verkleinerte Burg aus.

Kim betrachtete den Drachen genauer, der den Schwanz um die Glaskugel geschlungen hatte. Was er vorhin schon einmal bemerkt zu haben glaubte, das bestätigte sich. Die Miniaturen waren perfekt. Jedes noch so winzige Detail stimmte und der Drache wirkte so lebensecht, dass Kim sich kaum noch gewundert hätte, hätte er im nächsten Moment die Flügel ausgebreitet und wäre davongeflogen.

Aber was ihn eigentlich erschreckte, war etwas anderes.

Er kannte diesen Drachen.

Es war genau so, wie Rebekka es gesagt hatte, als sie die kleine Metallskulptur das erste Mal erblickte: Es war Rangarig, der goldene Drache aus dem Lande Märchenmond. Er war diesem Wesen begegnet, hatte zwischen seinen gewaltigen Flügeln gesessen und war auf seinem Rücken weit in das Land geflogen.

Kim stellte die Kugel mit einer fast erschrockenen Bewegung wieder an ihren Platz zurück und lächelte nervös. Heute war nicht sein Tag.

Offenbar hatte er nicht einmal seine Fantasie im Zaum. Natürlich war nichts von alledem wirklich passiert. Er hatte einen Traum gehabt, aber mehr auch nicht.

Unten im Haus polterte etwas und Kim schrak aus seinen Überlegungen hoch. Er verließ das Zimmer, ging zum Treppengeländer und lauschte einen Moment angestrengt. Er hörte nichts mehr, aber sein Herz klopfte ein wenig schneller. Auf Zehenspitzen schlich er die Treppe hinab, warf einen Blick ins Wohnzimmer und dann in die gegenüberliegende Küche. Irgendetwas war umgefallen und der Lautstärke nach musste es etwas Großes oder doch zumindest sehr Schweres gewesen sein. Aber er sah nichts.

Kim wollte sich gerade an die Erklärung gewöhnen, dass es wohl doch nur Einbildung gewesen war, als sich das Geräusch wiederholte. Diesmal konnte er die Richtung identifizieren, aus der es kam.

Aus dem Keller.

Kim trat auf die Tür unter der Treppe zu und streckte die Hand nach der Klinke aus, aber dann zögerte er, sie hinunterzudrücken. Vielleicht war es nicht besonders vernünftig in den Keller zu gehen und nachzusehen, was das Geräusch verursacht hatte. Nicht nach allem, was heute geschehen war. Vielleicht wäre es vernünftiger, die Polizei anzurufen oder wenigstens einen Nachbarn um Hilfe zu bitten.

Und was, wenn sie zusammen in den Keller gingen und feststellten, dass nur eine streunende Katze durch ein Fenster hereingekommen war? Dann würde er ganz schön dumm dastehen.

Außerdem wollte er sich nicht noch einmal wie ein Feigling vorkommen müssen.

Er drückte die Klinke herunter, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Der Keller bestand aus einem einzigen, großen Raum, dessen Decke von einer Anzahl starker Betonpfeiler getragen wurde. Die linke Hälfte war mit Kisten und Kästen, ausrangierten Möbeln und jeder Menge Gerümpel voll gestopft, die rechte Hälfte war penibel aufgeräumt und enthielt zwei Werkzeugschränke und eine ziemlich große Werkbank.

Das Kellerfenster unmittelbar über der Werkbank stand offen.

Und auf der Werkbank selbst prangte ein großer, schmutziger Fußabdruck.

Kim stieg mit klopfendem Herzen die steile Kellertreppe hinunter und trat an die Werkbank heran. Es gab nur diesen einen Fußabdruck, und Kim konnte nicht sagen, ob er frisch oder vielleicht schon Wochen alt war. Jedenfalls wies die Spitze des Abdruckes nach innen. Als wäre jemand durch das Fenster hereingeklettert und auf den Tisch gestiegen um den Kellerboden zu erreichen.

Kim ließ sich in die Hocke sinken und suchte den Betonboden nach weiteren Schmutzspuren ab. Es gab keine. Dafür sah er plötzlich einen weißen und roten Turnschuh, die unmittelbar vor ihm standen. Darüber erhoben sich zerschlissene Hosenbeine, ein abgewetztes T-Shirt und ein Gesicht mit einem hämischen Grinsen, gekrönt von einem Irokesenhaarschnitt.

»Hallo, Kleiner«, grinste der Punker. »Suchst du etwa mich?« Diesmal reagierte Kim sofort - und ausnahmsweise sogar richtig. Er riss die Hände vor das Gesicht und ließ sich auf die Knie fallen. Seine überkreuzten Handgelenke blockierten den gemeinen Fußtritt, den der Irokese nach seinem Gesicht abschoss. Statt Kims Nase einzubeulen, hüpfte der Punker plötzlich auf komische Art auf einem Bein herum und ruderte mit beiden Armen um sein Gleichgewicht zu behalten. Das musste er auch, denn Kim hatte blitzschnell seinen Fuß gepackt und verdrehte ihn so heftig, dass er den grotesken Tanz nur eine oder zwei Sekunden durchhielt, ehe er nach hinten kippte und ziemlich unsanft auf dem Betonfußboden knallte.

Kim ließ seinen Fuß endlich los, sprang in die Höhe und fuhr herum. Der Irokese begann sich bereits wieder aufzurichten, wirkte aber ziemlich benommen. Kim hatte keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Wo dieser eine war, da waren die anderen fünf garantiert auch nicht weit!

Er raste zur Treppe und sprang mit Riesensätzen die knarrenden Holzstufen hinauf. Unter ihm begann der Irokese Zeter und Mordio zu schreien, aber er hatte es fast geschafft. Noch zwei, drei Stufen - und zwei derbe Hände, von denen eine von einem gewaltigen Siegelring geschmückt wurde, packten ihn an der Brust und zerrten ihn mit einem so festen Ruck nach oben, dass die Nähte seines Hemdes krachten.