Seit der Orkan losgebrochen war, waren allerhöchstens fünf Sekunden vergangen. Trotzdem war auf dem großen Platz weder Mensch noch Tier auf den Beinen.
Niemand - außer Sturm.
Der Junge marschierte hoch aufgerichtet und fast gemächlich heran. Seine Kleider umflatterten ihn, als wollten sie sich von ihm losreißen, aber ihn selbst schien der höllische Wind nicht einmal zu berühren. Vielleicht ist er so dünn, dass der Wind einfach durch ihn hindurchpfeift, dachte Kim.
Grinsend und mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen ging Sturm an ihm vorüber. »Worauf wartest du?«, schrie er über das Heulen des Sturmes hinweg. »Auf eine schriftliche Einladung?«
Kim stemmte sich erneut in die Höhe und irgendwie gelang es ihm sogar, auf die Füße zu kommen und auch nicht gleich wieder zu Boden geschleudert zu werden. Schräg nach vorne gebeugt und mit schützend vor das Gesicht gehobenen Armen taumelte er auf das Festungstor zu.
Der Sturm nahm immer noch an Gewalt zu. Überall entstanden winzige Windhosen und Wirbel, die diejenigen, die das Pech hatten in ihrer Bahn zu sein, manchmal meterweit in die Höhe schleuderten. Trotzdem war Kim mittlerweile nicht der Einzige, der wieder auf den Füßen war. Nur ein Stück entfernt kämpfte sich Kai heran und auch der Bärtige trotzte dem Orkan und näherte sich, zwar taumelnd und mit verzerrtem Gesicht, aber beharrlich.
Kim erreichte das Tor, torkelte hindurch - und verlor mit einem überraschten Schrei das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin, als die unsichtbare Gewalt, gegen die er ankämpfte, mit einem Mal nicht mehr da war. Im selben Moment, in dem er das Tor durchschritten hatte, hatte der Sturm wie abgeschnitten aufgehört.
Kai und dem Bärtigen erging es nicht anders, aber sie waren beide eher wieder auf den Beinen als er. Als Kim sich aufrappelte, richteten sich gleich zwei Schwerter auf ihn.
»Toller Trick!«, knurrte Kai. »Bei Gelegenheit musst du mir einmal erzählen, wie du das gemacht hast.«
»Verschwinde!«, sagte der Bärtige. Sein Schwert richtete sich für einen Moment drohend auf Kai und schwenkte dann wieder in Kims Richtung. »Er gehört mir!«
»Fällt mir nicht ein«, antwortete Kai trotzig. »Überleg dir lieber, was du tust, Wolf. Ich weiß, dass ich dir nicht gewachsen bin, aber wir sind in der Überzahl. Ihr kommt nicht aus der Stadt heraus.«
»Das kommt auf einen Versuch an«, knurrte Wolf.
»Ähem ... entschuldigt, wenn ich mich einmische«, sagte Kim. »Aber könnte ich vielleicht gehen, während ihr euch darüber einigt, wer mir den Schädel einschlagen darf?«
»Du verstehst offenbar immer noch nicht«, sagte Kai nervös. »Wir wollen dir nichts tun. Unser Herr will nur mit dir reden, das ist alles. Sie -« Er deutete auf Wolf, »-werden dich töten.«
»Hier wird niemand getötet«, sagte eine dröhnende Stimme hinter ihm. »Außer euch dreien vielleicht. Was habt ihr hier zu suchen?«
Kim drehte sich herum. Eine riesenhafte Gestalt war auf dem Hof erschienen. Der Mann war viel, viel größer als jeder andere Mensch, dem Kim je begegnet war, und so breitschultrig, dass sich zwei Männer von Wolfs Gestalt hinter ihm hätten verstecken können. Sein Gesicht war verwittert und von unzähligen Runzeln und Falten durchzogen, die zum Teil so tief waren, dass sie wie Narben wirkten. Er hatte einen bis auf die Brust reichenden grauen Bart und schulterlanges grauweißes Haar. Das Beeindruckendste an ihm waren die Hände: Sie waren so groß wie Schaufeln.
»Verschwindet!«, brüllte er. »Alle! Ihr habt hier nichts verloren!«
»Ich muss unbedingt zu -«, begann Kim.
»Du musst verschwinden!«, schrie ihn der Riese nieder. »Keiner von euch darf hier sein! Ich warne euch nicht noch einmal!«
Kai starrte den Giganten noch einen Herzschlag lang an, aber dann senkte er sein Schwert und tat das wohl einzig Vernünftige: Er suchte sein Heil in der Flucht. Wolf hingegen schürzte kampflustig die Lippen und hob seine Waffe.
Der Riese versetzte ihm mit der linken Hand eine Ohrfeige, die ihn heulend zurücktaumeln ließ, entriss ihm mit der anderen das Schwert und brach es ohne sichtbare Anstrengung entzwei. Wolf ächzte, fuhr herum und rannte davon und der Riese setzte ihm nach und verpasste ihm einen so kräftigen Tritt in den Hintern, dass der Bärtige mehr aus dem Tor flog, als er ging. Dann fuhr der Riese herum und wandte sich mit finsterem Gesichtsausdruck an Kim.
»Und nun zu dir«, grollte er. »Du hast anscheinend besonders schlechte Ohren oder bist noch starrsinniger als deine beiden Freunde. Aber ich werde dir schon Manieren beibringen!«
»Aber ich muss wirklich -«
Er kam auch diesmal nicht dazu, zu Ende zu sprechen. Der Riese streckte den Arm aus, hob ihn ohne die geringste Mühe mit nur einer Hand hoch und warf ihn sich wie einen nassen Sack über die Schulter. Kim schrie, schlug um sich und strampelte wild mit den Beinen, aber der Griff des Riesen war wie Stahl.
»Nun hör mir doch wenigstens zu!«, schrie Kim verzweifelt. »Ich will dir ja erklären, warum ich hier bin!«
»Wirst du wohl still sein, du vorlauter Bengel!«, sagte der Riese. »Ich werde dir erklären, warum du besser nicht hierher gekommen wärst!«
»Aber ich -«
Der Riese versetzte ihm eine Kopfnuss und Kim verstummte endgültig. Ihm brummte der Schädel. Mit dem grauhaarigen Giganten war anscheinend nicht gut Kirschen essen, aber er würde ihn schon nicht gleich umbringen. Außerdem war er nun in der Festung und somit in Themistokles' Nähe. Früher oder später würde er dem Riesen schon klarmachen, wer er war, und vor allem, warum er hier war.
Kim hatte eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Riesen. Sie waren ein lautes, polterndes Volk, das zwar im Grunde herzensgut und sehr friedfertig war, aber zu derben Scherzen neigte. Gorg, sein alter Freund und Kampfgefährte, war ein Paradebeispiel dafür. Er liebte es, den Feigling zu spielen, neigte aber ebenso dazu, mit seinen Kräften zu prahlen und so zu tun, als fräße er mit Vorliebe kleine Kinder zum Frühstück. Wäre der Bursche, der Kim überwältigt hatte, dreißig oder vierzig Jahre jünger gewesen, dann hätte er glatt sein Bruder sein können.
Sie - eigentlich der Riese - betraten das Haus und stürmten eine Treppe hinauf, die allerdings nicht für Riesen gemacht war, sodass der Gigant immer fünf oder sechs Stufen auf einmal nahm und Kims Zähne bei jedem seiner Schritte schmerzhaft aufeinander schlugen.
»Ich muss zu Themistokles«, keuchte er.
»Themistokles?« Der Riese lachte dröhnend. »O ja, er wird dich sehen. Heute Abend, auf seinem Teller, knusprig gebraten und mit einer scharfen Sauce!«
»Hör mit dem Quatsch auf!«, sagte Kim. »Ich weiß, dass ihr Riesen keiner Fliege etwas zuleide tun könnt.«
»Das mag stimmen«, antwortete der Riese. »Dummerweise bist du keine Fliege.«
»Ich muss wirklich mit Themistokles reden«, sagte Kim. »Es ist wichtig!«
»Also gut«, knurrte der Riese. »Dann bringe ich dich zu ihm. Aber zuerst stecke ich dich in einen Zuber mit heißem Wasser. Du stinkst wie eine Kloake!«
Trotz dieser Worte schlug er den direkten Weg zu Themistokles' Zauberturm ein: Quer durch die große Halle und die lange, gewendelte Treppe zur Turmkammer des Magiers hinauf.
Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Sie war Kim niemals auch nur annähernd so lang vorgekommen wie heute.
Aber er hatte die Festung auch noch niemals so erlebt wie heute. Gorywynn war immer voller Leben gewesen und er hatte niemals auch nur einen Tag erlebt, an dem seine gläsernen Mauern nicht Lachen und fröhliche Stimmen zurückgeworfen hätten.
Jetzt herrschte hier eine vollkommene, fast unheimliche Stille. Die Schritte des Riesen schienen der einzige Laut zu sein, den es in der gesamten inneren Festung gab. Selbst das Heulen des Sturmes, das draußen noch laut genug gewesen war um ihm schier das Trommelfell zu zerreißen war hier drinnen nicht mehr zu hören.